Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
die Einreise von Fräulein Ilse Winter in die Schweiz mit dem Datum vom 9.
November 1935. Dieser 9.
November bleibt in ihren Akten als Stichtag erhalten, ein Datum, das drei Jahre später auf schreckliche Weise Geschichte schreiben wird. Sechs Tage nach der Einreise reicht sie ihren Antrag auf Aufenthalt ein, der ihr Jahre später das Leben retten wird. Als Grund der Einreise gibt sie an: Erholung. Erste Wohnadresse ist ein möbliertes Zimmer in Basel. Auf dem polizeilichen Meldezettel vom 12.
November ist ihre Herreise aus Wien vermerkt. Ilse reist mit dem Nachtzug am Grenzübergang Buchs in die Schweiz ein. Aus dem Abteilfenster hätte sie bei der Überquerung des Altrheins die Stelle ahnen können, an der sich sieben Jahre später das Schicksal ihrer Mutter entscheidet.
Der 9.
November 1935 ist ein Samstag. Dieser Wochentag lässt den Schluss zu, dass ihre Reise schon seit Längerem arrangiert ist und Fred Heim vermutlich am Schweizer Bahnhof in Baselauf dem Bahnsteig wartet – vielleicht hat er sie ja sogar in der Hoffnung erwartet, sie würde bei ihm bleiben. Er ist verliebt. Seine Chancen stehen nicht schlecht, er sieht gut aus, ist wohlhabend und strahlt Sicherheit aus.
Berlin–Paris–Wien, Ilse ist diesmal nicht auf einer Durchreise, Basel ist ein erklärtes Ziel. Alles Weitere ist ihr in der fremden Stadt am Rand der Schweiz nach dem Pariser Debakel mit Mehring und den dürftigen Aussichten in den schäbigen Hotels ziemlich unklar. Vielleicht muss sie auch Schluss machen mit der geliebten Schauspielerei? In Wien hat diese einen schweren Dämpfer einstecken müssen, trotz guter Empfehlungen und tüchtigen Klinkenputzens. Gelungen war ihr seit Berlin und der kurzen Tournee mit Henny Porten nichts mehr – und das alles liegt bald drei Jahre zurück.
Am neuen Ort kann es also nur anders werden, mit Erwerbsverbot und eifersüchtigem Liebhaber. Wohin soll sie? Also hat sie – vermutlich auch auf sein Drängen hin – innerhalb von acht Tagen um Aufenthalt nachgesucht, und Fred Heim hat ihr gern die erste Unterkunft besorgt. Ilse kann durchaus sehen, was sie erwarten wird, aber sie wäre sich nicht treu, hätte sie nicht alles gleich nach ihrer Fasson umgekrempelt. Am 22.
Januar 1936 schreibt sie an die Fremdenpolizei: »Ich beabsichtige, hier meine Ausbildung als Gymnastiklehrerin zu vervollständigen und die Laban-Schule der Käthe Wulff zu besuchen.«
Käthe Wulff hatte kurz nach dem Ersten Weltkrieg dem Dada des Zürcher Cabaret Voltaire den expressiven Ausdruckstanz »beigebracht« und war selbst bei den Dada-Soireen aufgetreten. Zu ihren »Schülern« gehörten der junge Dada Walter Mehring und dessen Freund Dada Richard Huelsenbeck, der später Schiffsarzt wird und Ilse »in alter Freundschaft« in Berlin ein Kind »weggemacht« hatte.
Käthe Wulff führt in der Basler Augustinergasse 3 das Tanzstudio Wulff und ist, als Ilse sie 1936 aufsucht, mit ihrer Tanztruppe ein prägendes Kulturgut der Basler Avantgarde. Doch Frau Wulff ist wählerisch, es reicht nicht, gemeinsame Bekannte zu haben, und so kommt es nicht zu einer Ausbildung, geschweige denn zu einer Zusammenarbeit. Ilse bringt kein Taktgefühl mit – sie taugt nicht für Tanz. Wie schon damals in Reinhardts Fledermaus , als der »Trampel« von der Bühne flog. So wird es auch Frau Wulff gesehen haben. Da helfen Ilses Erinnerungen an die »Laban-Schule« im Hinterhof der Landhausstraße auch nicht weiter.
Die Basler Fremdenpolizei macht Erhebungen. Das Protokoll von Quartierschreiber Grüninger finde ich 2011 im Staatsarchiv Basel in der fremdenpolizeilichen Akte von Ilse Winter. In den Jahren 1936 und 1937 wurde Ilse dreimal bespitzelt.
Basel, den 21.
Mai 1937
Frl. Winter ist die einzige Tochter eines Berliner Möbelfabrikanten, welcher anno 1928 [richtig ist: 1925] gestorben ist. Ihre Mutter lebt noch in Berlin und besitzt dort ein kleineres Vermögen sowie ein gut rentierendes Haus.
Frl. Winter bewohnt in No.
3 Zossenweg eine gut eingerichtete 4-Zimmer-Wohnung, welche monatlich Fr. 275,− Mietzins kostet, und erhält fast jeden Abend von ihrem Bräutigam Besuch. Die gesamten Unterhaltskosten werden von ihrem Bräutigam bezahlt.
Die Gesuchstellerin, die intelligent und gewandt ist, hat ganz freie Ansichten, weshalb sie rituell nicht streng eingestellt ist.
Herr Heim und Frl. Winter beabsichtigten schon vor einigen Monaten, sich zu verheiraten, stießen aber aufseiten des Bräutigams auf Hindernisse,
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