Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
Zukunft an der Seite von Mehring. Die Boheme am Rand der Armut macht ihr Angst. So sagt sie denn vor dem Standesbeamten auf die Frage, ob sie Monsieur Walter Mehring zum Gatten nehmen möchte, spitz »Non!« , was Walter und Ilse nicht im Geringsten daran hindert, wieder in ihr kleines Hotel zurückzukehren. Das Leben hat ihr die Männer immer vorgesetzt.
In solcher Ménage lebt Mademoiselle Winter noch ein halbes Jahr, bis sie sich entschließt, im Spätsommer 1935 nach Wien zu Tante Annie, der jüngeren Schwester ihrer Mutter, zu reisen, um wieder am Theater zu arbeiten. Sie nimmt den Nachtzug, den zur selben Zeit auch Ilja Ehrenburg auf dem Weg nach Moskau besteigt:
»Frankreich erlebte in jenem Jahr einen ungewöhnlichen Herbst mit vielen Gewittern und einer zweiten Kirschblüte. Ich betrachtete die gepflegten kleinen Gärten, die weißen, schieferbedeckten Häuser, diese liebe, fragile, vielleicht dem Untergang geweihte Welt. Ich schaute aus dem Zugfenster.«
Ilja Ehrenburg, Menschen – Jahre – Leben
Ilse wohnt den Herbst über bei ihrer Tante Annie und deren Mann, Sektionschef Kanitz, in Wien. Wahrscheinlich versucht sie, mithilfe ihrer jetzt berühmten Freundin aus der Zeit am Deutschen Theater in Berlin, Vilma Degischer (wir kennen sie alle als Erzherzogin Sophie in der berühmten Sissi -Trilogie mit Romy Schneider), ein Engagement am Theater in der Josefstadt zu finden. Das Vorhaben scheitert, und stattdessen muss Ilse sich mit Kinderbetreuung und schlecht bezahlter Schreibarbeit ihr Essen verdienen. So hatte sie sich das sicherlich nicht vorgestellt; nach drei Monaten fragt die Familie drängend, ob Ilse ernsthaft plane, in Wien zu bleiben, und wie der Unterhalt denn gestaltet werden solle. Ohne eine Antwort darauf packtIlse ihre Koffer. Nun ist die Zeit reif für ihren Verehrer in Basel, den gut aussehenden Hemdenfabrikanten aus dem Nachtzug: Fred Heim.
Wie viel Gepäck Ilse auf ihrer Reise in die Schweiz dabei hat und wozu sie bereit ist, ahne ich nur. Bestimmt hat sie sich angekündigt, und bestimmt hat der galante und spendable Verehrer Ilse auch ungeduldig erwartet. Immerhin, er hat den Kontakt über die zwei Jahre nicht abbrechen lassen und Ilse bestimmt auch ein-, zweimal in Paris besucht, wo seine Firma Produits textiles ein Büro und wichtige Kunden hat. In Ilses Ratlosigkeit ist es eine lohnenswerte Reise. Sie ist neugierig, unternehmungslustig und hat nichts zu verlieren, so macht sie sich nun auf den Weg nach Basel. Sie weiß bestimmt, dass sie, sollte sie bleiben wollen, von Fred Heim abhängig wird, denn nur durch Heirat erlangt sie Sicherheit und einen Schweizer Pass. Doch daran denkt sie auf der Fahrt von Wien nach Basel nicht im Traum. Ilse will sich nicht binden, kann sich nicht binden – sie weiß das, denn in ihrem Gepäck bringt sie auch ein grafologisches Gutachten mit, das sie sich in Wien bei der Freud-Schülerin Margarete Bauer-Chlumberg kürzlich hat machen lassen. Kommendes kündigt sich darin an:
»Dieses Leben steht unter Gefühlsherrschaft. Der Mensch ist seinen Gefühlen hingegeben, und er wird von ihnen auch gegen seinen Willen hingerissen. Da ist eine Inkonsequenz merkbar, die nicht nur von der Umwelt bemerkt, auch von dem Schreiber selbst immer wieder mit peinlichen Gefühlen festgestellt wird, trotzdem er sich dagegen wehrlos weiß.
Freilich könnte sein Verhalten, äußerlich betrachtet, auch den Eindruck von Unberechenbarkeit machen. Das liegt auch daran, dass er manches von seinem Fühlen und Denken tief in sich verschließt, sodass die Motive seines Verhaltens nicht immer klar zutage liegen.
Die Gründe seiner Verschlossenheit liegen tief im Persönlichen. Es ist da eine nervliche Zartheit und Schwäche, die der sonstigen Dynamik dieses Naturells einfach nicht gewachsen ist. Der Schreiber, der hohe Anforderungen an sich für Lebensleistung und Geltung stellt, fühlt sich zu Zeiten, die diesen Anforderungen nicht entsprechen, in Selbstauflehnung und Missmut gegen die Welt. Fühlt er sich nicht verstanden, dann fühlt er sich zugleich in die Einsamkeit seiner Kämpfe zurückgeworfen. Dadurch entfernt er sich. Er hat nicht die Treue um der Treue willen, wie manche gemütsruhigere Menschen sie besitzen, auch dort, wo sie enttäuscht werden. Seine Beziehung ist abhängig von der Bejahung seiner Existenz durch den anderen, sowohl im Bereich des Triebhaften wie des Menschlichen.
Margarete Bauer-Chlumberg«
Die Fremdenpolizei des Kantons Basel Stadt vermerkt
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