Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
und Seminaren sind kaum junge Frauen zu sehen, Volkswirtschaft und Staatsrecht sind 1937 noch Männerdomänen. So wird Ilse schnell bekannt, die Stadt ist klein, und an den Wochenenden wird sie immer wieder in Begleitung des eleganten Fabrikanten Heim gesichtet. Sie sorgt für Gesprächsstoff.
Ilse Winter gehört nicht zu den ausländischen Studenten aus Deutschland, Polen, den baltischen Ländern oder Holland, diesehr bei der Sache bleiben müssen, bei strengen »Schlummermüttern« hausen und immer knapp bei Kasse sind. Ilse kann es sich leisten, zu Coiffeur Ritter am Barfüsserplatz zu gehen, Schuhe für 28,– Franken zu kaufen, ihre zwei Pelzmäntel beim Kürschner einzulagern und bei Spillmann am Rhein Kaffee zu trinken. An Ostern und im Herbst reist sie nach Ascona, genießt die Idylle am See und wandert durch die einsamen Bergtäler des Südens.
Ihr Auftritt ist nicht studentisch, ihr Lebensstil ebenso wenig – schon gar nicht im Vergleich zu den wenigen jüdischen Kommilitonen; Elfriede Abramowicz aus Wien, Erich Oppenheim, Heinz Levy, Jakob Stern, Alfred Baermann oder die staatenlose Eva Horowitz, die schmal durchkommen und als Kostgänger auch bei der Jüdischen Fürsorge anklopfen müssen. Ilse hingegen lebt mit ihrem Terrier Wupsi in einer geräumigen Wohnung im grünen Sankt-Alban-Quartier und schließt neue Freundschaften in der Stadt.
Ilse studiert, Basel 1938/39
Ihren Professoren fällt das adrett gekleidete, in der Sache noch naive, aber schlagfertige, rhetorisch gut gebildete und durchaus intelligente Fräulein Winter auf: dem Lehrbeauftragten für mathematische Nationalökonomie und »perfekten Gentleman« Luigi Vladimier Furlan, dem einflussreichen Germanisten Walter Muschg, vor allem aber dem scharfsinnigen und autoritären Staatswissenschaftler Edgar Salin. Salin und Furlan sind es denn auch, welche die junge Frau, die nur als Hörerin zugelassen werden kann, ermutigen, das Studium ernsthaft zu betreiben.
Salin, von den »Erstsemestern« als »S(t)alin« gefürchtet, hat das Fräulein Winter nicht, wie so viele vor und nach ihm, gefragt: »Wie lange gedenken Sie zu bleiben, haben Sie schon ein Retourbillett gelöst?« Ihr gegenüber ist er charmant. Bei ihm besucht Ilse ihre ersten Seminare, auch darüber geben die Schuhkartons Auskunft. In Ilses Testatheft steht notiert:
SOMMERSEMESTER 1937
Nationalisierung der Volkswirtschaft: SALIN
Hauptfragen der Schweizerischen Wirtschaft: SALIN
Mortalitätsstatistik: REKTOR FRITZ MANGOLD
Zudem Kurse in English Conversation und Italienischer Kurs II
Mai 1937, der große Umbau der Landhausstraße 8 ist gemacht, die neuen Wohnungen sind vermietet. Marie Winter möchte sich eine Reise gönnen. Sie fühlt, dass ihr Mieteinkommen für das Jahr gesichert ist. Sie hat große Sehnsucht nach Ilse. Ausreisen sind möglich, wenn auch umständlich. Geld darf nur sehr beschränkt mitgeführt werden, aber da kann Ilse mit einer Einladung in die Schweiz helfen. Marie möchte in die Berge, dorthin, wo die Schweiz für sie am schönsten ist, ins Berner Oberland, mit Blick auf Eiger und Jungfrau. Also wird in Mürren ein Zimmer im Chalet Heimat gemietet. Henny Winter, die Schwester von Felix, will mitkommen. Sie lebt allein – kein Wunder, denn sie schwatzt den ganzen Tag, ist verwöhnt und hat an allem alles auszusetzen. Dennoch ist sie Marie willkommen, denn Henny wird auf der langen Bahnfahrt von Berlin nach Basel mit dem vielen Gepäck eine nützliche Hilfe sein. Natürlich will Henny nicht im Chalet logieren, sie reserviert sich ein Zimmer mit »Jungfraublick« im vornehmen Hotel Regina .
Am 5.
Mai 1937 kauft Marie die Bahnkarten mit Schlafwagenzuschlag für die Fahrt nach Basel. Sie will endlich mit eigenen Augen sehen, was sich Ilse im Leben »zusammenbraut«. Ilse hat ihr schon lange kein Mutterglück mehr bereitet, und so ist sie auch jetzt auf alles gefasst. Vor allem möchte sie Fred Heim treffen, um endlich von ihm zu erfahren, warum die Hochzeit nicht zustande kommt. Schon einmal hat Ilse alles platzen lassen, 1934 in Paris mit Walter Mehring; genauso lang liegt auch die letzte Begegnung von Mutter und Tochter zurück: drei Jahre!
Im Juli kommt Marie mit großem Gepäck in Basel an. Wochenlang hat sie herausgelegt, verworfen, neu gepackt und wieder nachgedacht, um ihrer Tochter die guten und vernünftigen Sachen mitzubringen: englisches Tuch – aus der Zeit, als die Schneiderin noch zweimal im Monat ins Haus kam, Tweeds für den Winter,
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