Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
Mantelstoff für einen Ulster, bunten Jersey für ein Strandblüschen. Marie überschüttet Ilse mit Vorsorge. Im Schlepptau die laute, unruhige, sehr kapriziöse und ungeduldige Henny. Marie nimmt Ilses Haushalt in der Etagenwohnung peinlich unter die Lupe, erlässt Order für die Zugehfrau und gibt Empfehlungen für nützliche Anschaffungen.
Für Sonntag hat sich Fred angesagt. Er führt Marie, Henny und Ilse in ein gemütliches Fischlokal am Rhein. Das entspannt, und er kann sich wie gewohnt großzügig zeigen. Marie fragt ihn dennoch eindringlich nach den Hochzeitsplänen, nicht ohne den Hinweis, dass Ilse eine lohnende Partie sei, drei Viertel des Hauses seien schon jetzt ihr väterliches Erbteil – in bester Berliner Lage und durch kürzliche Umbauten und Erweiterungen im Wert durchaus gestiegen. Sie erkundigt sich auch in berlinerisch forschem Ton nach seinen Verhältnissen und dem Gang der Geschäfte im Textilgewerbe und – nicht ohne Hintersinn – nach dem Befinden seiner Geschwister.
Fred spricht wohl kaum Tacheles, berichtet nicht, wie sehr Ilse den Schwestern Irma und Jeanette missfällt, ebenso wenig von seinen Schulden bei der Firma, weswegen er stillhalten muss, auch sagt er ihr nicht, dass er Ilse zwar begehrt, sie aber bis auf Weiteres nicht heiraten kann. Marie versteht ihn zwischen den Zeilen, bleibt dennoch höflich, aber resolut. Noch fühlt sie sich nicht bedroht, sie will nur das Wohl ihrer Tochter: eine baldige Ehe.
Kurz vor der Weiterreise nach Interlaken und Mürren bittet Edgar Salin zum Tee. Er hat sehr zu danken, denn seit Kurzem führt Marie seine Buchbestellungen in den gut sortiertenAntiquariaten der Hauptstadt aus und befriedigt damit seine unersättliche Begierde nach Erstausgaben. Für ihn eine sehr willkommene Regelung, denn die Komplettierung seiner Privatbibliothek kann über die Schweizer Antiquariate nur noch zu horrenden Preisen gelingen. Er selbst habe, wie er später schreiben wird, nach der »Machtergreifung« keinen Fuß mehr in seine alte Heimat gesetzt.
Professor Edgar Salin, ca. 1940
Einer Einladung allerdings kann er sich im Herbst 1933 nicht verweigern. Marion Gräfin Dönhoff, deren »Wunsch-Doktorvater« er ist, hat ihn auf den Familiensitz Schloss Friedrichstein östlich von Königsberg eingeladen. »Eine mutige Exkursion für den Gelehrten jüdischer Herkunft«, schreibt Klaus Harprecht in seiner Biografie der Gräfin. Und selbst noch im Jahr 1935 erhält Salin von seiner Frau Charlotte »liebe Grüße … nach Berlin!«. Dies wird dann auch seine letzte Reise bis Kriegsende bleiben. So weiß der Professor an diesem Nachmittag auch besonders zu schätzen, dass die Mutter seiner vielseitigen Studentin bereit ist, die Suchaufträge des Bibliomanen auszuführen und mit preußischer Exaktheit auch in Vorleistung zu gehen. Der Professor betrachtet Ilse Winter auch in dieser Hinsicht als ein »Geschenk des Himmels«, erfüllt doch Mutter Marie den »Auftrag« mit bewundernswerter Gewissenhaftigkeit bis ganz zum Ende. Monat für Monat lässt sie eine Lieferung von »Edgars« – so nennt sie die Bücherpakete in ihren Briefen – an die Hardstrasse 110 abgehen, über hundert Titel in vier Jahren. Ab 1940 wird eine Deckadresse in Freiburg eingerichtet, über die ein Kurier die Lesefracht nach Basel bringt und im Austausch dafür kleine Päckli für die Landhausstraße entgegennimmt.
Marie kassiert ihre ersten Außenstände bei Salin und kauft sich mit den so »getauschten« Schweizer Franken bei Bally zwei Paar bester, fester Halbschuhe; einmal braun, einmal schwarz: »Für alle Fälle. Damit kann ich auf eine weite Reise gehen«, äußert sie Ilse gegenüber vieldeutig und versäumt es nicht, im selben Atemzug vor einer zu engen Liaison mit »dem schwer belasteten Sonderling« zu warnen, gewinnt dabei ganz Mutter dem Mann jedoch gewisse Vorteile ab: »Das einzig Gute verstehe ich nur von ihm für Deine bevorstehende Arbeit respektive deren Abschluss, wofür er günstig wirken kann, wie heißt das Thema? Gott, Kinder, werde ich stolz sein, sollte wirklich einmal etwas klappen?«
Die gemeinsamen Sommerwochen in Mürren verlaufen wenig harmonisch. Ilse unternimmt weite Bergwanderungen durch das Blumental und zum Oberhornsee und erklimmt zusammen mit einem Bergführer die vergletscherte Wetterlücke auf 3
100 Meter. Natürlich kann Marie mit ihrer Behinderung Ilses Gangart nicht folgen, und Henny mag es nur zum Tee auf der Hotelterrasse. Ilse will keine
Weitere Kostenlose Bücher