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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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Rücksichten nehmen, Mutter hin, Henny her. Erst vor Kurzem hat die Spreeathenerin Ilse ihre Leidenschaft für die mächtige Natur der hohen Berge entdeckt. Nun ist sie jeden Sommer auf großen Touren unterwegs, durchquert die Alpen auf alten Pässen und übernachtet bei den Sennen auf der Sommeralm – die Schuhkartons sind voller kleiner Fotos von Ilses prächtigen Expeditionen in die Stille.
    Marie und Henny in Mürren, Sommer 1937
    Nach einer guten Woche reist Ilse unvermittelt ab. Sie hat genug gesehen, sie langweilt sich. Die Mutter ist tagelang nur belehrend und Henny »z.

K.« – zum Kotzen. Marie muss es wie so oft hinnehmen, hat sie doch mit Ilse schon einige Enttäuschungen erlebt: den um zwanzig Jahre älteren Felix Gasbarra und sein »verfluchtes Theatermilieu«, die geplatzte Trauung mit WalterMehring, nun die Horrorvision einer »blödsinnigen« Affäre mit dem Professor und die schon seit Jahren durch Ilse zerzausten Träume der »Vernunftehe« mit Fred Heim. Ilses Männerleben wird Marie ganz bis zum Ende in den Knochen stecken. Am 11.

Januar 1942 schreibt sie ihr in tiefer Verzweiflung:

    Ach, ich bin vollständig fertig, Dein Trost, ruhig Blut zu behalten, ist immer für die Katz gewesen, denn Du versagst stets, wenn etwas Entscheidendes an Dich herantritt, leider habe ich das ja oft genug mit Grausen durchgemacht. Wenn ich nur an Walter Mehring in Paris und meinen berauschenden Reisebesuch von damals denke. Und alle Phasen mit Fredi!
    Immer wieder beschäftigst Du Dich mit Edgar und seinen Unmöglichkeiten, mir ist das alles lange indiskutabel, aber Dir kommt leider immer spät die Einsicht, während ich um Dein Herzweh, das damit verbunden, Jahre trauere.
    Vor Maries Rückreise bleiben noch zwei Tage in Basel. Ilses kluge Nachbarin, Frau Luise Köhler, versucht, Marie mit Engelszungen und drastischer Rede davon zu überzeugen, nicht nach Berlin zurückzukehren. Sie ahnt, dass die Hetze gegen die Juden noch viel schlimmer werden wird. Doch Marie schlägt aus, zu viel hat sie eben erst in ihr Haus gesteckt, zu lieb sind ihr die Freundinnen – vielleicht später, wenn Ilse in der Schweiz einen Mann und Familie haben sollte, dann hätte auch sie hier eine Aufgabe –, aber jetzt, es werde nicht alles so heiß gegessen, wie es gekocht wird, und ihr jüngster Bruder Isidor ist doch EK-Eins-Träger: »Nein, nein, ich fahre morgen.«
    Ilse macht keine Anstalten, die Mutter von der Rückkehr nach Berlin abzuhalten – sie kann den Tag der Abreise kaum noch erwarten. Maries Anwesenheit in Basel war ihr schon nach wenigen Tagen lästig. So sehr sich beide Frauen auf das Wiedersehen gefreut haben, so sehr bringt nun jedes Wort Streit undTränen. Sie lieben sich, doch diese Liebe »glüht« nur in der Trennung. Die Mutter darf allein in der Abwesenheit Mutter sein. Auch viele ihrer Männer liebte sie gern »sehnsüchtig«.
    Maries Auftritt in Ilses Wohnung, ihr prüfender Blick, ihr Körper, der hinkende Gang, die harte Sprache der einsamen Frau – all das erträgt Ilse nicht, ist ihr ganz und gar unerträglich im Sommer 1937. Ilse lehnt den Lebensentwurf, den Marie für sie bereithält, rundherum ab, sie verachtet die Vernunft der Mutter, verwirft jeden noch so gut gemeinten Ratschlag und verweigert sich so heftig, bis sogar ihr Körper gegen die Nähe der Mutter revoltiert.
    So war es schon in ihrer Pubertät. Bereits mit vierzehn war Ilse in der Landhausstraße nur von einem Gedanken getrieben: Weg von hier, nur weg von dieser Mutterliebe. Mit achtzehn der Ruck. Sie floh zum Theater. Danach entfernte sie Marie aus ihrem Leben und verkapselte sie tief in ihrer Seele. Ich sehe das Bild einer Schatulle vor mir, die nie mehr geöffnet werden darf, so wie viele Jahre später auch die Schuhkartons. Das lange Hoffen und Bangen der Mutter hat Ilse nicht erreicht – auch wenn Marie bis zur Selbstaufgabe dafür kämpft. Maries Kampf ums Leben wird Ilse bis ganz zuletzt als Bedrohung für ihr eigenes Überleben empfinden – ausweglos für beide Frauen!
    So wird es an diesem Spätsommertag 1937 gewesen sein auf dem kleinen mit Geranien bewachsenen Balkon von Ilses Wohnung – und mit dem gesunden Menschenverstand der Nachbarin von nebenan. Ilse zählt die Stunden, bis sie Marie und die Nervensäge Henny an der Grenzwache des mit Hakenkreuzen beflaggten Basler Reichsbahnhofs aus den Augen verlieren kann. Marie ist wehmütig und doch auch froh, wieder nach Hause zu fahren, im Nachtzug nach Berlin Anhalter

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