Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
Bahnhof. Was dunkelste Träume an diesem hellen Nachmittag nicht ahnen: Sie werden einander nie wiedersehen – es ist ein Adieu für alle Zeit.
Am nächsten Mittag kramt Marie wie gewohnt den Schlüsselzu ihrem Haus in der Landhausstraße 8 aus der Handtasche und bittet den Droschkenfahrer, ihr die zwei schweren Koffer in die Diele zu stellen. Marie Winter ist zurück in Berlin: bei ihren Freundinnen, ihren Sachen, ihrem Garten, ihrem Haus.
Schon wenige Tage nach ihrer Rückkehr aus dem »Schweizer Sommer« entdeckt Marie auch auf dem nahe gelegenen Nikolsburger Platz, dort, wo Ilse die Cecilienschule besucht hat, eine frisch in Gelb gestrichene Parkbank: »Nur für Juden«.
WINTERSEMESTER 1937/38
Geschichte der politischen und wirtschaftlichen Ideen: SALIN
Grundfragen des korporativen Staates: SALIN
Spezielle Volkswirtschaftslehre: RITSCHL
Gesellschaftslehren der Gegenwart: MUSCHG
Dass Fräulein Winter statt, wie von ihr vorgesehen, zu heiraten nun fast jeden Tag den Weg zum Kollegiengebäude einschlägt, macht Fritz Jenny im Kontrollbüro der Fremdenpolizei stutzig. Er wünscht weitere Abklärungen. Detektiv Schläfli »erkundigt sich« und gibt am 15.
November 1937 zu Protokoll:
Die Petentin erklärt, an ihren Verhältnissen habe sich nichts geändert, sie sei mit Heim immer noch verlobt, und die Heirat sei nur herausgeschoben.
Sie liege ihrem Studium fleißig ob, und sie habe dort noch keine Stunde gefehlt. Eine Erwerbstätigkeit übe sie nicht aus, im Gegenteil, sie beschäftige noch ein Schweizermädchen. Heim sorge nach wie vor für ihren Unterhalt, sodass sie ohne jegliche Mittel von Wohltätigkeitsorganisationen auskomme. Man möchte ihr den weiteren Aufenthalt zu Studienzwecken gewähren.
Bei der Befragung von Nachbarn und Vertrauenspersonen gibt Advokat Dr.
Lehmeier, Streitgasse 4, zu Protokoll:
»Wie er von Herrn Prof. Salin erfahren habe, liege die Petentin fleißig ihrem Studium ob, und hier falle sie niemandem zur Last, sodass gegen eine Verweigerung des weiteren Aufenthalts nichts im Wege liege.«
Und der Rektor der Universität, Fritz Mangold, attestiert auf Nachfrage der Polizei im Dezember 1937:
»Falls Fräulein Winter von ihrer Studienzeit mindestens drei Semester an der Universität Basel zurücklegt und die Dissertation unter der Leitung eines Basler Dozenten ausarbeitet, wenn ferner die Dissertation als eine hervorragende wissenschaftliche Leistung anzusehen ist, kann sie, ohne immatrikuliert zu sein, das Examen eines Dr.
rer.
pol. machen.«
Na also! Ilse Winter hat zwei Jahre nach ihrer Ankunft in Basel einen einflussreichen, geistigen und durchaus zugänglichen Mann kennengelernt, der gern – wenngleich nicht ganz uneigennützig – bereit ist, seine Hand auch schützend über sie zu halten: Edgar Salin, seit 1927 in Basel Professor für Volkswirtschaftslehre, Staatsrechtler, Wirtschaftshistoriker, Vorsteher der Basler Schlichtungsstelle, Berater der Regierung in Fragen des Arbeitsmarkts und der Beschäftigungspolitik, Autor, Redner, Lehrer; in allen Bereichen bestens vernetzt und durchsetzungsfähig. Ilses Aufenthaltsbewilligungen werden nun ohne weitere »Abklärungen« zunächst für jeweils drei Monate, dann um ein halbes Jahr bis Ende 1938 verlängert.
Edgar Salin ist ein mächtiger Denker in Basel, und so hat er hier nicht nur Freunde. Das haben sie ihn in der Stadt viele Jahrzehnte spüren lassen, denn seine Vorstellung der Polis istnicht die der Kompromisse und der Plebiszite. Die Geschichte hat ihn gelehrt, dass nur die in die Elite der Völker Berufenen zu Großem befähigt sind – denn Großes gedeiht nur im Geist entschlossener Führer. Das gefiel längst nicht überall, als Edgar Salin 1927 den Basler Lehrstuhl für Staatsrecht von Julius Landmann übernahm. Obwohl sich der 1882 in Frankfurt am Main geborene Sohn jüdischer Eltern später zunehmend von der nun herrschenden deutschen »Elite« distanziert, so bleibt er der diskreten, doch mächtigen Oligarchie der »alten Basler Familien«, dem »Teig«, beinahe sein Leben lang suspekt. Schließlich stammt er aus dem »Reich«, ein Zeichen wie ein Kainsmal – in diesen Zeiten der Unsicherheit und Bedrohung besonders deutlich wahrgenommen. Doch seine Kompetenz als Ökonom, sein autoritärer Auftritt und seine enorme Arbeitskraft lassen wenig Raum für offenen Widerspruch. Edgar Salin hängt dem »geheimen Deutschland« Stefan Georges an:
»An einem heißen Frühlingsnachmittag des Jahres
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