Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
1913 ging ein junger Student durch die Hauptstraße der Stadt Heidelberg. Als mit einem Mal die Müden sich zu raffen schienen: federnden Ganges, leichten Schrittes kam ein Einzelner des Weges – alle wichen zur Seite, auf dass nichts seinen Gang hemme, und wie schwebend, wie beflügelt bog er um die Ecke. Der Betrachter stand erstarrt, auf den Fleck gebannt. Ein Hauch einer höheren Welt hatte ihn gestreift. Er wusste nicht mehr, was geschehen war, kaum, wo er sich befand. War es ein Mensch gewesen, der durch die Menge schritt? War es ein Gott, der das Gewühl zerteilt hatte und leichtfüßig zu anderen Gesandten enteilt war?
Der Betrachter entsann sich nur undeutlich der einzelnen Züge; gemeißelt waren sie. Und die Augen?
Plötzlich wusste der Betrachter: Es war ein Strahl dieser Augen, der ihn gebannt hatte, schnell wie ein Blitz war einBlick zu ihm herübergeflogen, hatte ihn ins Innerste durchdrungen und war mit einem leichtfüßigen Lächeln weitergewandert. Und nun steigt das Wissen auf: War es ein Mensch, dann – Stefan George.«
Edgar Salin, Um Stefan George
So erinnert Edgar Salin sich an seine erste Begegnung mit dem Meister. Fortan zieht der Gralshüter des »Geheimen Deutschlands« den jungen, vom Staunen ergriffenen und von Wissbegierde getriebenen Edgar in seinen Bann – unausweichlich. Auch in ihm lebt der Meister über seinen jähen Tod im Jahr 1933 hinweg weiter.
In Basel sitzt Salin durch seine privilegierte Lebenssituation im neutralen Land nun wie eine Spinne im Netz und streut Informationen und Korrespondenzen zu den in alle Welt vertriebenen Getreuen des Meisters, aber auch in den in Deutschland aktiven »Kreis«. Dazu zählt auch sein Männerfreund Artur Sommer, der bei ihm in Heidelberg promoviert hatte und seit dem Jahr 1938 als Offizier der deutschen Abwehr – mit Dienststelle beim Oberkommando der Wehrmacht – auf seinen Missionsreisen in die Schweiz öfter in Basel absteigt. Dieser A.
S. wird in Ilse und Maries Geschichte noch eine wichtige Rolle spielen.
Doch trotz aller Anstrengung ist Salin die posthume Gunst und Aura d.
M. nicht gegönnt. Die »reichsunmittelbaren Jünger« meiden ihn. Ihnen ist der konvertierte Jude Salin, der sich in der Schweiz sein Nest gebaut hat, zu angepasst, zu geschwätzig und auch zu penetrant. So redigiert sich Salin seinen eigenen George, verfasst Briefe und Lyrik im Stil und Geist des Meisters und meißelt in der Stille der ihn umgebenden Kriegsferne am eigenen Denkmal im Ehrenhof der George-Epigonen. »Manches bei Salin schien mir Faltenwurf«, notiert der »George-Chronist« Michael Landmann. Immerhin, der Nachlassverwalter und Siegelbewahrer von George, Robert Boehringer, der in Genf lebt und von dort aus die George’schen Vermächtnisse lenkt, nutzt den treuen Anbeter in Zeiten des Krieges wie auch der Neuordnung als kleine Drehscheibe und nützlichen Publizisten.
Als Ilse die Bühne von Edgar Salin betritt, lebt der Professor allein mit seinen zwei Kindern Lothar und Brigitte in der Hardstrasse 110 in Basel. Der Haushalt ist im Umbruch. Seine Frau Charlotte hat »gesündigt« und den despotischen Professor nach vierzehn Jahren Ehe verlassen – ein ungeheuerlicher Vorfall, auch für den Freundeskreis, der die einst »innig geliebte« verstößt. Um Erklärung bemüht, wie es kommen konnte, dass die edle Frau Mann und Kinder »drangibt«, um sich selbst zu finden, verfasst die langjährige Hausfreundin Edith Landmann, die Witwe von Salins Vorgänger auf dem Basler Lehrstuhl, dem verwaisten Gatten die Absolution. Die Philosophin spendet Trost:
»Ich glaube, die, die wir liebten, müssen wir wie eine Abgestorbene beweinen. Irgendeine furchtbare physiologische Veränderung muss hier vorgegangen sein, welche den Sitz der Seele angegriffen und zerstört und nur noch die äußere Form lebendig gelassen hat.
Quälen Sie sich nicht mit dem Gedanken, wie solcher Adel sich so sinken ließ. Sie ist gar nicht mehr da. Ich habe nur noch für Sie und Ihre Kinder den einen dringenden Wunsch, dass Sie sich von einem Wesen – innerlich und äußerlich – scheiden, das wie sich selbst, so auch Sie und die Kinder nur mit zerstören würde. Man muss sie wohl gehen lassen, wohin es sie treibt – sie irgendwo einzusperren, ihr ärztliche oder andere Hilfe aufzudrängen, würde nur versteifen und verschlimmern. So bleibt nur dieser Weg.«
Am 24. März 1937 formuliert Edgar Salin im schönen Engadin seinen Abschied von dem Wesen, das nur noch
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