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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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stehen, und tappen dabei an sich vorbei und sehen nicht, wie falsch und schlecht sie dabei wegkommen und wie unpraktisch sie für das profane Leben sind.
    Grau ist alle Theorie. Für pflaumenweiche Quatschereien ist heute keine Zeit auf der Welt. Man kann heute nicht rechnen mit dem, was kommen wird, sondern nur mit dem, was greifbar ist und was man hat, besonders wenn man wie wir ohne jegliches Fundament dasteht.
    Um auf meinen verbrachten Jom Kippur zu kommen, so verlebte ich den Kol-Nidre-Abend so heilig und bekovet , wie ich es seit jeher gehalten habe und gewohnt war.

    Ich umarme dich herzlich mit innigen Küssen
und schrecklicher Sehnsucht – Deine Mutti
    Zurück aus dem Tessin wird Ilse ins Kontrollbüro der Kantonalen Fremdenpolizei einbestellt. Sie macht sich fein für den Besuch im Amtszimmer des Vorstehers im mittelalterlichen Lohnhof auf dem Basler Kohlenberg; weiße Bluse, dunkelblaues Jackett und der dazu passende wadenlange Plisseerock. Ihr Auftritt ist mehr Professorengattin, als es der ihrer Freundin Charlotte, geschiedene Salin, je gewesen ist.
    Ihr deutscher Reisepass ist noch bis zum 18.

Mai 1941 gültig – die Papiere sind in Ordnung, und sie hat sich auch kein Vergehen gegen das strikte Verbot der Erwerbstätigkeit zuschulden kommen lassen; die Existenzsorgen vieler Emigranten in der Schweiz kennt sie nicht. Ilse lebt bequem. Die monatliche Miete für die Wohnung in der Alban-Anlage 39 bestreitet weiterhin Fred Heim. Auch darüber hinaus ist er großzügig, und auf ihrem Einlagekonto Nr.

12

779 beim Schweizerischen Bankverein, Basel, liegen 4646,45 Franken Erbteil.
    Der Chef der Kantonalen Fremdenpolizei Fritz Jenny und Ilse Winter kennen sich nun schon seit drei Jahren. Sie ist keine Unbekannte mehr, die Akte hat Umfang. Dafür hat er gesorgt. Zweimal schon hat er Detektiv Schläfli auf Ilses Spur gesetzt, denn eine junge, sehr attraktive Schauspielerin aus Berlin mit Männerbekanntschaften, so etwas kommt ihm nicht oft in die Stadt. Diesmal hat er Gesprächsstoff, das Fräulein Winter geht seit einiger Zeit zur Universität, zu Professor Salin, einem Mann von Bedeutung. Er fragt, ob sie als Schauspielerin überhaupt einen Sinn für die Zusammenhänge der Wirtschaft habe und ob denn eine Promotion zu erwarten sei – sie sei ja nur Gasthörerin –, und falls nicht, ob denn die seit Jahren geplante Heirat mit Herrn Alfred Heim noch in Aussicht stehe? Ohne ausreichende Gründe werde ihr Aufenthalt bestimmt nicht über das kommende Jahr hinaus verlängert werden können – die Verhältnisse werden laufend neu bewertet –, die Schweiz könne nicht größer werden und sich mehr Platz schaffen, so wie das gerade in Deutschland gemacht werde. Dafür mehrten sich die Anzeichen nach Einschränkung und Kontrolle aus dem Polizeidepartementin Bern. Auch wenn man in Basel die Dinge liberaler sehe als in Bern, man komme doch nicht um alles herum.
    Dann reicht er ihr die erneut verlängerte Aufenthaltsbewilligung über den Tisch. Trotz des guten Bescheids ist Jenny verlegen, denn zum ersten Mal ist auf dem Formularbogen ein fettes, lilafarbenes »J« gestempelt. Ilse schaut ihn fragend an.
    Das »J« in Ilses Polizeiakten
    »So will es Bern. In Basel passt uns das nicht, aber wir müssen es auf Geheiß aus Bern stempeln.«
    So ist Ilse nun auch in der Schweiz von Amts wegen als Jüdin gezeichnet. Der Chef der Polizeiabteilung im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement Heinrich Rothmund hat 1938 darauf gedrängt, dass deutsche Juden erkennbar markiert werden. Ein großes »J« prangt nun in ihren Meldebögen. Der kontrollbesessene Rothmund ist auch der Ideengeber des »J« in den Pässen der deutschen Juden. Für ihn sind Emigranten eine Bedrohung der Schweiz:

    »Emigranten werden nur als Menschen, als apolitische Menschen geduldet. Sie müssen das politische Gewand vollständig ausziehen. Auch dann noch bilden sie eine politische Belastung für die Schweiz. Es genügt, dass schon unbedachtes und verantwortungsloses Verhalten von Schweizern oft genug die Atmosphäre trübt und unsere Position schwächt.«
    Mit solchen Worten wird geistige Landesverteidigung gezimmert. Beinahe alle Basler Freundinnen und Freunde von Ilse sind damit gemeint, Emigranten und Schweizer. Nur hinter verschlossenen Türen – wie bei Salin am Küchentisch, bei Konrad Farner in Frenkendorf, bei Max Ras in Riehen, später in Ilses gemütlichem Salon und nach 1939 auch bei den drei Frauen im Haus zum

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