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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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unvergänglich, doch
    gilt es, sich vor Zerreden zu hüten und die
    Haltung zu wahren. Die stets in Zeiten der
    Trauer härter ist wie in Zeiten des Glücks.

    Herzlich und dankbar
E.

S.

    Ascona, den 21.

September 1938
    Liebstes Ilschen,

    ich freue mich ja so schrecklich, wenn Sie kommen! Wann kommen Sie? Es ist fein, dass jüdische feiertage sind. Wie lange können Sie bleiben?
    Ilse bleibt, es gibt ja auch viel zu besprechen, obwohl sie in Basel zur Fremdenpolizei einbestellt ist. Dem zuständigen Beamten schreibt sie eine Postkarte:

    Ascona, den 28.

September
    Sehr geehrter Herr Merz,

    Sonnabend erfuhr ich, dass Sie mich zu sprechen wünschten. Ich war gerade im Begriff der Abreise, um noch vor Semester-Anfang ein paar schöne Herbsttage im Tessin zu genießen. Am kommenden Montag melde ich mich bei Ihnen.

    Mit ergebenen Grüßen
Ilse Winter
    WINTERSEMESTER 1938/39

    Bank und Börse: SALIN
    Kommunismus und Sozialismus: SALIN
    Seminar, Konjunktur: SALIN
    Wirtschaftsstatistik: MANGOLD
    Wirtschaftsgeschichte im Mittelalter: VON DEN STEINEN
    Geschichte der Demokratien: GASSER
    Marie besucht wie jedes Jahr in der Reformsynagoge in der Prinzregentenstraße die Gottesdienste zum neuen Jahr. Sie ist nicht fromm, doch die zwei hohen Feiertage, das Neujahrsfest Rosh Hashanah und den Versöhnungstag Jom Kippur, begehtsie. Es ist von der Landhausstraße nur ein kurzer Spaziergang bis zur 1930 eingeweihten Synagoge in der Prinzregentenstraße.
    Marie begegnet vielen Freunden und Bekannten. Es ist der 5.

Oktober 1938. Man wünscht sich gegenseitig ein »hoffentlich besseres neues Jahr«, erkundigt sich nach Familie und Freunden, fragt, ob die Tochter noch in der Schweiz studiere, noch ledig sei? Ob es der Schwester in Palästina gut bekomme und der Bruder in Paris ein Auskommen habe? Wie es um den Vater stehe, der mit seinen neunundsiebzig Jahren wohl zu gebrechlich sei, um noch im Tempel zu beten?
    Beherrschendes Thema auf dem Weg ins neue Jahr – bleiben oder gehen? Alle stellen sich diese Frage. Sie ahnen nicht, dass gerade an diesem Tag eine weitere Schikane in Kraft tritt: Für Reisen ins Ausland müssen Pässe von Juden künftig mit einem roten »J«-Stempel versehen werden, eine Kennzeichnung, die nun auch in der Schweiz eingeführt wird. Drei Tage später schreibt Marie an Ilse; es ist der erste von Maries einhundertzweiundsiebzig Briefen aus den Schuhkartons.

    Berlin, den 8.

Oktober 1938
    Meine liebe Ille,

    ich erhielt Deine Postkarte. Will vor allem hoffen, dass Deine Erkältung wieder vorüber ist. Alles Widerwärtige und Schwere, das ich hier allein und verlassen bekämpfen muss, wollte ich in Geduld ertragen, wenn ich durch Dein Leben ein Ziel hätte, wofür? So aber ist seit Jahren und Jahren ein Zustand bei Dir geschaffen worden, der, je älter man wird, desto trostloser und aussichtsloser wird; ist ja der ganze Krempel, den Du Dir da gestaltet hast, ein Kartenhaus.
    Alles, alles Spielereien mit dem Feuer und noch nie da gewesener Irrsinn, der zum Himmel schreit. Alle vier Wochen finden Auseinandersetzungen statt und darauf Versöhnungen.
    Erfolg: Ein neues Kleid, das nicht bezahlt wird, denn woher 1000 Franken Schulden?! Pfui, kann ich nur sagen, und charakterlos von Dir, nur wieder in Deine Krankheit zu verfallen, etwas anzuschaffen, wenn Du kein Geld dazu persönlich besitzt.
    Ich schäme mich, weiß Gott, vor dem Mann. Lieber würde ich mit dem Wenigsten und Einfachsten mich bescheiden, als Kämpfe und Beschimpfungen wegen der Fetzen zu haben, und wie oft haben wir darüber gesprochen? Aber Du hältst eben nichts. Sieh lieber zu, Dir einen Mann zu besorgen, der Dich heiratet und der Dich bescheiden, ganz bescheiden ernähren kann. Und setze Dich mit Fred in Ordnung, dann wird ihm und Dir und mir wohl sein. Beweise einmal in Deinem Leben, dass Du etwas machst, was Hand und Fuß hat und präzise ist. Das Wort »präzise« aber hat noch nie bei Dir existiert, und das ist doch das Schönste beim Menschen. Konntest Du diesen Mangel trotz aller Philosophie an Dir noch nicht beseitigen? An Dir selbst eine große Korrektur radikal vorzunehmen, wäre weiß Gott die schönste Tat, die Du vollbringen könntest. Glaube mir, das wäre weit wichtiger, als eine Doktorarbeit zu Papier zu bringen. Frage mal Salin, der zwar ebenso an sich noch enorm zu arbeiten hätte, um etwas Brauchbares aus sich zu machen. Die meisten Gescheiten glauben, so schrecklich klug zu sein und über den anderen zu

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