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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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Villejuif ist verwaist. Die Emigranten haben anderes zu tun als Kunst. Es riecht nach Krieg – »Paris verklingt«.
    Onkel Willi hält sich mit »Luftschlössern« über Wasser. Seine Patentanmeldung einer cocotte à vapeur – eines Dampfkochtopfs – kostet ihn viel und bringt nichts. Auch in Frankreich wird im Sommer 1939 mehr Munition gemacht als Kochgeschirr. Ob und wie sehr Ilse versucht, ihren »Williwusch« wegzubewegen, kann ich nur vermuten. Ich weiß aber aus seinen Briefen, dass er in Paris hofft, mit dem Affidavit – der Verpflichtungserklärung – der entfernten New Yorker Cousine Louise Kaufman ein Visum für die USA zu erhalten. Eigentlich wollte die Cousine Marie rausholen, die aber verzichtet zugunsten ihres Bruders – in der Hoffnung, durch Ilses Heirat ihrerseits in die Schweiz auswandern zu können. So wären beide gerettet, denkt Marie im April 1939.
    Ilse bringt Onkel Willi Bargeld und mehrere gute Anzüge von Fred mit, die natürlich umgearbeitet werden müssen, denn Willi ist mit seinen 162 Zentimetern ein kurz geratener Mann, und natürlich Hemden aus der Fabrik. Auch in den kommenden Jahren wird sie ihm immer wieder Pakete schicken: in das Camp de la Viscose und an die vielen flüchtigen Adressen seiner Irrfahrt.
    Edgar Salin, ganz erpicht, schickt Postkarten an Ilse c/o Eisenberg: »hoffe, dass noch zwei Wochen Frieden bleiben, obwohl immer sichtbarer wird, ›les yeux sont faits‹ – wann kehren Sie nach Basel zurück?« Er zeigt sich weniger als Charmeur, mehr als homme politique , und auf seine Vorahnungen ist Verlass, das weiß auch Ilse – sie reist ab, erfüllt von Wehmut und Beunruhigung. Willi aber sieht für sich kein Vor und kein Zurück, erbleibt und begleitet seine Illemusch am 15.

April zur Gare de l’Est, wo sie sich in der salle des pas perdus lange in den Armen liegen und einen schweren Abschied voneinander haben. Wieder bahnt sich für Ilse ein dunkler Traum, ein zweites Adieu im eiligen Gedränge von Aufbruch und Abschied unter den Kuppeln der Bahnhofshallen an. Illepuppe wird ihren Williwusch nie mehr sehen.
    Wenige Wochen darauf, am 25.

Mai, begeht Marie ihren sechzigsten Geburtstag. Am nächsten Tag berichtet sie Ilse nach Basel.

    Berlin, den 26.

Mai 1939
    Meine geliebte Illemusch,

    als Erstes bei der Beantwortung meiner zahlreichen Korrespondenz von gestern kommst natürlich Du dran, und Du hast mir mit dem Blumengruß als erster Gratulant am frühen Morgen eine große Freude gemacht. Mit ein paar Tränen legte ich die herrlich duftenden Honigglöckchen schnell ins Wasser, und nach kurzer Zeit waren sie so wundervoll wie eben frisch gepflückt, und sie schmückten am Nachmittag meinen hübschen Kaffeetisch als Ehrenplatz. Hab also innigen Dank dafür wie auch für die mit der zweiten Post um 12

Uhr eingetroffenen Sendungen, der Schokolade und dem 1a Unterkleid, welches mir tipptopp passt und das ich fein gebrauchen kann.
    Oh, ich hatte überhaupt wirklich einen sehr gefeierten Tag, man war so überaus aufmerksam, dass ich dadurch über meine Verlassenheit und Traurigkeit hinwegkam und meinen Kummer, diesen Tag nicht mit Dir verbringen zu können, etwas vergaß. Mittags gratulierte mir mein Baron – Karl von Kaskel – mit einem Rhododendronbaum, der wirklich beinahe größer war als er selbst (da er doch ein ganz kleines Kerlchen ist).
    Maries galanter Mieter, den sie meist kurz als Baron bezeichnet, bewohnt seit 1938 die kleine Dachwohnung in ihrem Haus. Der schmächtige alte Herr ist Karl Freiherr von Kaskel, 1866 in Dresden als Spross einer illustren Dynastie von Bankiers geboren. Sein Großvater, Carl Freiherr von Kaskel, war Mitbegründer der Dresdner Bank, sein Vater Felix war ebenfalls Bankier. Karl von Kaskel selbst schied jedoch aus dem Bankunternehmen aus und verschrieb sich der Musik. Nach dem Klavier- und Kompositionsstudium am Leipziger Konservatorium und in Köln komponierte er Lieder und schuf Orchesterstücke und Bühnenwerke, die in mehreren deutschen Städten zur Aufführung kamen, wie beispielsweise Die Gefangene der Zarin (1910) oder Die Schmiedin von Kent (1916) im Dresdner Opernhaus. Seine Opernfassung Die Bettlerin vom Pont des Arts wurde 1899 in Kassel uraufgeführt, vom selben Jahr an lehrte er als Musikprofessor in München.
    Aus seiner Ehe mit einer nichtjüdischen Frau sind zwei Kinder hervorgegangen, ein Sohn und eine Tochter. Nach den Nürnberger Gesetzen gilt von Kaskel, obwohl er wie schon seine Vorväter

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