Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
Vom Netzwerk:
»Fälkli« – wird unbehelligt gedacht.
    Drei Wochen nach Jom Kippur, in der Nacht vom 9. zum 10.

November, brennt Maries Synagoge in der Prinzregentenstraße. Sie kann durch die Luken der Mansardenfenster den Feuerschein der brennenden Kuppel sehen – noch sind die Neujahrswünsche nicht verklungen, da greifen die Nazis alles Jüdische an, es ist »Kristallnacht«.
    Am Nachmittag des 10.

November fahren die Geschwister Heim von Basel aus mit ihrem Auto in das nahe badische Städtchen Müllheim und befreien dort ihre betagte Großmutter, die sich vor Angst erstarrt mit einer Freundin im Keller vor den randalierenden und plündernden SA-Männern versteckt hält. Sie bringen die alte Dame noch am selben Tag unbehelligt in die Schweiz. Die Schuhkartons schweigen.

    In dem halben Jahr zwischen Marie Winters erstem Brief und dem zweiten erhaltenen Schreiben vom April 1939 hatte sich die Lage der jüdischen Bevölkerung drastisch verschlimmert. Ab dem 3.

Dezember 1938 wird als erste Anordnung der »Reichspolizeiverordnung über das Auftreten der Juden in der Öffentlichkeit« diesen der Besuch aller Theater, Kinos, Kabaretts, öffentlichen Konzerte und Vortragsräume, Museen, Sportplätze … verboten. Damit werden Jüdinnen und Juden Schritt für Schritt aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen.
    Ab dem 1.

Januar 1939 muss auch Marie Winter wie alle anderen Jüdinnen, die keine »anerkannten« jüdischen Vornamen tragen, den Zwangsvornamen Sara als offiziellen Namensteil annehmen – die Männer entsprechend den Namen Israel. Die Betroffenen sind verpflichtet, diese Änderung der örtlichen Polizei zu melden und auf dem Standesamt auf eigene Kosten beurkunden zu lassen. Sie werden gezwungen, diese Vornamen in der Öffentlichkeit sowie im Umgang mit Behörden und in geschäftlichen Angelegenheiten stets anzugeben. Die Ausgrenzung aus der »Volksgemeinschaft« wird damit noch schärfer.
    Im Jüdischen Nachrichtenblatt wird die Bildung der Zwangsorganisation »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland« angekündigt und gleichzeitig die Bildung der »Zentralstelle für jüdische Auswanderung Berlin« bekannt gemacht. Am 1.

April werden jüdische Erwachsene offiziell von der Benutzung der städtischen Volksbüchereien und Lesesäle ausgeschlossen und vieles mehr.
    »Ja, ja, es ist eine Wonne zu leben«, schreibt Marie am 28.

April 1939 sarkastisch an Ilse. Die Zuteilungen für Juden sind knapp: »Ein Stück Toilettenseife für vier Wochen! Und für Wäschewaschen ebenso knapp. Tafel Schokolade überhaupt nicht mehr.« Um diese Zeit bahnt sich Schlimmeres an: Am 30.

April 1939 wird das »Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden« rechtskräftig, das heißt, ihr Mieterschutz wird, wenn sie bei »arischen« Vermietern wohnen, aufgehoben, und jüdische Vermieter dürfen künftig nur noch an Juden untervermieten. Diese Entwicklung führt bald auch in der Landhausstraße 8 zu tief greifenden Veränderungen.
    Landhausstraße 8 nun mit Anbau
    Alfred Heim, 1939

----
    »Menschen mit nur einem Rucksack haben nichts weiter zu verlieren als ihr Leben – und das ist ja heute nichts mehr wert.«
    MARIE IM WINTER 1940
    Ostern 1939 reist Ilse noch einmal von Basel aus nach Paris. Viele Freunde aus der »besseren Zeit« sind schon längst weiter – so sie konnten. Zwei sind noch hier, Walter Mehring und ihr geliebter Onkel Willi.
    Mehring haust mit »Ophelia«, Hertha Pauli, noch immer in seiner »Exilkommode«, dem Hôtel de l’Univers :

    »Vollgestopft vom Mansardenloch bis zum Luftschutz-Kohlenkeller mit Souvenirs an Heimaten, an Herzens- und Geldnöte, an Verfolgungen und Haussuchungen. Ich schlich auf Zehenspitzen, aus Besorgnis, den kranken Schlaf von Paris zu stören, und mehr noch aus Furcht, die Beamten der Fremdenkontrolle aus ihrem Hinterhalt zu locken. Die Unschuld des erotischen Übermuts von Paris war dahin; die Medizin-Studenten des Boulevard St. Michel sangen nicht mehr ihre schlüpfrigen Chansons, sondern plärrten: ›Il nous faut un Führer …‹«
    Walter Mehring,
Wir müssen weiter. Fragmente aus dem Exil
    Nichts ist mehr so, wie es in Ilses Erinnerung lebt. Willi Münzenberg ist verbittert, denn von den »Moskauern«, allen voranvon Walter Ulbricht, aus der Partei gedrängt, ist er dem letzten Akt zuvorgekommen und ausgetreten. Die Russen um Ilja Ehrenburg sind längst weg, Arthur Holitscher vereinsamt und erblindet in der Rue de Rennes, das Jiddische Theater von Harry Kahn in der

Weitere Kostenlose Bücher