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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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Knappheit ja noch grausiger ist. Hoffentlich kannst Du Dich durch warme Kleidung schützen. Ich danke täglich dem Schöpfer (mit dem ich ja, so wie Du schon lange, jetzt ebenfalls breuges [verkracht] bin), dass ich es noch soo habe. Mir fehlt nichts als mein Kind und meine Geschwister, und das genügt, sehr unglücklich zu sein, ich würde alles zurückstecken, wenn ich bei ihnen sein könnte; da heißt es eben, Geduld haben, ob man es erlebt, ist fraglich. Unserem Vater fehlte auch nichts weiter als seine Kinder, er kann zufrieden sein, dass er sein Bett und zu essen hat, nicht alle haben es so. Er ist inzwischen ganz wunschlos geworden, ist mit allem zufrieden, nicht immer war er so. Jetzt ist es wohl ein Zeichen der Erschöpfung oder Schwäche. Willichen, verdienst Du mit irgendetwas Dein Brot?
    Warum habe ich denn niemand, der mich holt? Wahrscheinlich nur noch der Teufel eben. Ach Gott, wir Armen!
    Schreibe mir von Deiner Hand bitte schnellstens, was Du treibst, es wird lange dauern, bis ich es habe, aber mal wird es kommen. Bleibe gesund und sei innig geküsst von

    Deiner kummervollen Mieze
    Marie erhöht 1940 die Schlagzahl und auch die Schlagkraft ihrer Briefe. Sie hat allen Grund dazu, denn schon jeder zweite Berliner Jude hat seine Koffer gepackt, fast 20

000 im zurückliegenden Jahr. Noch ist die Auswanderung »politisch erwünscht«, wenn auch nur unter Preisgabe von Vermögen und Habe. Novemberpogrom, Inhaftierung, Ausgrenzung, Schikane und Zwangsabgabe haben 1939 so viele Juden wie noch nie dazu getrieben, Deutschland um jeden Preis den Rücken zu kehren.
    Wer bezahlen kann und einigermaßen fit ist, fackelt nicht lang: »Nur raus!«, lautet die Parole. Das nimmt Marie sehr deutlich wahr. Auch für sie ist keine Zeit mehr, um wählerisch zu sein. Bald wird sie auf ihrem Globus den Landweg nach Siam studieren, sich nach dem Klima auf Kuba erkundigen oder von Kalifornien träumen. Doch handfest bleibt nur die Rettung durch die Tochter, und damit das auch wird, darf Heirat für Ilse nicht länger eine Angelegenheit des Herzens sein. Wenn Fred nicht will, dann eben ein anderer:

    Berlin, den 2.

Juni 1940
    Illemusch,

    wenn Du nur heiraten würdest in allerkürzester Zeit, muss ich notgedrungen wieder erwähnen; von jeder mir nahestehenden und meine Interessen teilenden Seite wird dazu geraten, Dir das ans Herz zu legen. […] Nicht nur das wäre ein großes Glück, sondern auch ich persönlich wäre mein Unglück los, das ja in seiner Ungeheuerlichkeit unvorstellbar wird. Erspar mir doch alle Ausführungen darüber, sondern lass Dir nur gesagt sein, ganz gleich, wer es auch ist, wenn Fredi kein Ohr dafür hat! Kein Mensch mit Verstand kann das fassen und verstehen, was da versäumt wird.
    Auf Schritt und Tritt wird man hier an sein Unerwünscht-Sein erinnert, darum ist man nur von dem einen einzigen Gedanken verfolgt: Hinaus!

    Adieu mein Geliebtes.
    Wie man das macht, jemanden zu heiraten, um Schweizerin zu werden, hat Ilse im Freundinnenkreis aus nächster Nähe erlebt. Lola Sernau, mit der sich Ilse in Ascona anfreundet, hat 1938 die Zeichen der Zeit für sich gedeutet und den Gärtner Fritz Humm geheiratet. Lola, die ich in den Fünfzigerjahren noch oft im Tessin gesehen habe, war die langjährige Sekretärin von Lion Feuchtwanger und sicherlich gut von ihm beraten. 1933 hat sie in Berlin mutig seine Manuskripte gerettet und folgte ihm dann nach Sanary. Trotz ihres Schweizer Gärtners wird Lola Humm 1940 von den Franzosen interniert. Sie kann sich 1941 in die Schweiz retten. Ilse kennt alle Details dieser Geschichte, doch sie hat ihre Gründe, sich keinen »einfachen Mann« zu suchen.
    Ende März liegt der Bescheid für Marie Winter, geborene Eisenberg, in Ilses Briefkasten. Auf grünem Vordruck der Eidgenössischen Fremdenpolizei wird das Gesuch »abgewiesen«. Heißt es beim Kanton noch »Überfremdung«, so lautet die Begründung aus Bern: »Die Weiterreise ist nicht gesichert.« Wohin aber sollte Marie im Frühjahr 1940 weiterreisen?
    Schweiz: »Das Boot ist voll.«
    Nach Kriegsbeginn ist die Emigration der Juden aus Deutschland zwar noch nicht verboten, faktisch aber kaum mehr möglich. Denn die deutschen Juden sollen nun als »Bettler über die Grenzen geschickt« werden, so ist es in einem Rundschreiben des Auswärtigen Amtes aus dem Jahr 1939 formuliert, »denn jeärmer der Einwanderer ist, desto größer ist die Last für das Einwanderungsland«. Ein Reisepass mit dem obligatorischen

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