Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
mehr wehtat als das seinige. Niemals fandest Du es für nötig, Zugeständnisse zu machen, sogar auch dann nicht, wenn Du im Unrecht warst.
Ich kann nach wie vor von meiner Ansicht nicht loskommen, wonach Du zum Ziel gelangt wärst, wenn Du anders und klüger mit ihm umgegangen wärst. Es hätte ja nicht für die Ewigkeit sein brauchen, wenn es wirklich nicht ginge. Leicht ist es jetzt bestimmt nicht mehr für Dich, einen Mann zum Heiraten zu finden, nachdem Du fünf Jahre ein Verhältnis hattest, und wenn einer kommt, wird er bestimmt nicht so sein, wie Du ihn wünschst, ich kenne doch meine Tochter, die in der Beziehung sehr blöde und unpraktisch ist und die sich nur immer in jemand verknallt, was zu nichts als Kummer führt! Aber das ist wohl nicht mehr zu ändern, trotzdem jetzt inzwischen Krieg stattfindet!
In dieser Zeit sind viele Menschen notgedrungen einen anderen Weg gegangen und mussten die heißesten Wünsche und Pläne aufgeben, um sich über Wasser zu halten, und es war ja auch seit Wochen so bei Dir der Fall, wie ich aus Deinen Briefen in großer Sorge um mich entnahm und die mir deshalb so wohltaten. Jetzt ist nun wieder mal meine Enttäuschung groß, und ich habe nichts mehr, woran ich mich retten kann, ja nicht mal mehr die Beruhigung um Dich wie bisher. Alles wird noch mehr im Winde verweht sein als bisher, kaputt bei Dir und bei mir. Krieg! Wirst Dich sehr umsehen müssen, auszukommen, und der Coiffeur und die Kosmetik können ebenfalls nicht mehr davon angeschafft werden.
Soll es etwa noch mal ein Mann »verhältnisweise« bezahlen? In dieser Form glaube ich, hast Du wohl auch genug davon? Ach, ich könnte verzweifeln bei dem Gedanken, wie falsch Du mit Deinem Ich bis heute umgegangen bist, und immer wieder bist Du zu wenig stolz, die nötige Achtung vor Deiner Person aufzubringen.
Als Du jünger warst, war es das verfluchte Theatermilieu, das Dich auf dem Gewissen hatte. Als Du aber diese Freundinnen und deren Zoff überwunden hattest, warst Du doch auch nicht weit genug, das Leben richtig anzupacken, um es zu meistern. Denkst Du, ich glaube daran, dass Du es heute kannst? Du sagst so hin, Dir sei nicht bange darum. Es ist Tausenden sehr bange darum, sogar Gescheiteren als Dir. Inzwischen wirst Du ja erfahren haben, was weiter wird, und beginnen müssen, Dich umzustellen; ausgerechnet in der schwersten Zeit, wo man dachte, den Mann zur Seite zu haben, mit dem Du so viele Jahre viel Gutes gehabt hast. Ich stelle mir alles schrecklich vor.
Mit herzlichsten Küssen und dem Wunsch einer günstigen Klärung,
Deine Mutti
Zieh Dich warm an bei der Kälte.
Marie führt umfangreiche Korrespondenz. Wir kennen nur ihre rund zweihundert Briefe und Schreibekarten an Ilse und weniges an den Bruder Willi. Sie hält auch mit der weitverzweigten Verwandtschaft der Winter- und Eisenberg-Familien Kontakt; mit Felix Winters Cousine Louise Kaufman in New York und mit Berenice Mills in Chicago, deren Mutter Chaskels Schwester ist. Sie korrespondiert auch mit der »meschuggen« Tante Henny und der »bedauernswerten« Tante Rosel und mit deren Brüdern Julius und Alfred Winter, denen die wohlhabende amerikanische Verwandschaft rechtzeitig das Leben gerettet hat. Marie führt diese verzweigte Korrespondenz sehr zielstrebig – doch trotz »goldener« Gelegenheiten bleiben die Vereinigten Staaten für Marie unerreichbar, auch weil sich Willi und Ilse nie dazu entschließen können, die gemeinsame Auswanderung über den Atlantik tatkräftig voranzutreiben.
Marie ist eine Briefeschreiberin, das hält sie am Leben. Jeden Tag setzt sie sich hin, stundenlang, geht zur Post, steht in der Warteschlange und beginnt, kaum zu Hause, den nächsten Brief. Ein Glück für sie, dass die Tochter in der neutralen Schweiz lebt. An viele Freundinnen und auch an ihre Schwestern darf sie seit Kriegsausbruch nicht mehr schreiben: feindliches Ausland. So wird Ilse immer mehr zu Maries Anker in stürmischer See.
Dem Brief an Ilse vom 17.
Januar liegt auch ihr Brief an Bruder Willi bei. Hat Ilse ihn nicht weitergeleitet? Im Schuhkarton bleibt er erhalten.
Berlin, den 17.
Januar 1940
Mein Gutes,
ich weiß so gut wie nichts von Dir, und das ist furchtbar! Glücklich hatte mich schon die Nachricht gemacht, dass Du in Deinem Haus bleiben konntest. Wie geht es denn mit dem Magen, bei dem Nervenzustand macht er Dir sicher viel Schmerzen?
Und die entsetzliche Kälte, die bei Dir durch die unbequeme Beheizung und womöglich
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