Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus
hoffe ich einerseits, Sie durch meine Leistungen am Examen nicht zu sehr zu enttäuschen, und andererseits, wenn ich dazu nur irgendwie in die Lage kommen sollte, armen deutschen Studenten an der hiesigen Universität zu helfen. So glaube ich am besten, Ihren Absichten zu entsprechen.
Mit den ergebensten Grüßen bin ich
Ihr sehr dankbarer
Gerhard Oertl
Der Mann kommt wie gerufen! Der Professor will ihn gern aus seiner Gewissensnot und selbst auferlegten Bringschuld befreien, um Ilse Winter in den Ruf einer fleißigen und ehrgeizigen Doktorandin in spe zu versetzen. Nicht nur das, sehr bald schon wird Oertls Studentenbude am Basler Nadelberg auch zum Umschlagplatz von Maries Büchersendungen und zur Versandadresse der besten Berliner Antiquariate für Gerhard Oertls schwunghaften Handel mit Raritäten. Der »Hungerleider« ist saniert und sein Mittagstisch durch diese Allianz zudem auf längere Zeit gesichert. Auch Ilses Bleiberecht hat nun bessere Perspektiven. Die Studienbescheinigungen des Professors am Staatswissenschaftlichen Seminar der Universität Basel für Fräulein Winter schreiben sich nun leichteren Herzens.
WINTERSEMESTER 1939/40
Finanz-Probleme: SALIN
Internationaler Handel: SALIN
Kolloquium: SALIN
Deutsche Erzähler des 19.
Jahrhunderts: MUSCHG
Seminar, Romanistik: MUSCHG
Geschichte der Kredit-Theorien: WAGNER
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»Und was ihr heute nicht leben könnt, wird nie.«
RENATA VON SCHELIHA
»Ich hatte in Berlin von 1933 an nicht verfehlt, auf das Destruktive der zur Herrschaft gelangten Grundsätze für das nationale Leben, insbesondere für die geistige Kultur, hinzuweisen. Da ich in der Folgezeit, ganz besonders bei den Pogromen im November 1938, soweit es in meinen Kräften stand, jüdischen Bekannten zu helfen suchte, geriet ich naturgemäß in eine immer exponiertere Lage. Ich sah, dass ich nicht mehr lange frei meiner ethischen Überlegung nach würde leben können, und hielt es daher für geraten, zusammen mit Marianne von Heereman, die als meine Mitarbeiterin bekannt war, Deutschland zu verlassen.«
Renata von Scheliha, »Antragsschreiben zur
Erlangung der Aufenthaltsbewilligung« in Basel
Am Samstag, den 26.
August 1939 kommen zwei Frauen aus Berlin am Reichsbahnhof in Basel an: die achtunddreißig jährige Altphilologin Renata von Scheliha und ihre etwas jüngere Freundin Marianne von Heereman. Diese Reise, ohne Rückkehr nach Deutschland, ist den beiden Frauen von einer innigen Freundin kategorisch »befohlen« worden – von Edith Landmann, die schon vor einem Jahr aus Berlin in die Schweiz zurückgekehrt ist. Die beiden »Vestalinnen« reisen »weinendenHerzens«, denn viele ihrer Vertrauten sind in Berlin zurückgeblieben. Doch für Renata wurde die Lage immer bedrohlicher. Eine knappe Woche vor Ausbruch des Krieges erwarten die drei Frauen sich sehnsüchtig auf dem Bahnhofsvorplatz.
Eine tiefe, durch vielerlei Gemeinsamkeiten verbundene Freundschaft führt sie zueinander: der Meister, Stefan George, zu dem Edith Landmann wahrhaftige Erinnerungen hegt, der gemeinsame tiefe Hass auf die braune Pest und die glühende Sehnsucht nach den hohen Idealen der Antike. Die drei Frauen verbinden sich im Geist. Renata von Schelihas großer Freund, Wolfgang Frommel, gibt ein Bild von ihren letzten Jahren in Berlin: »Renata bebte vor Hass und Verachtung. Hastig rauchte sie eine Zigarette nach der anderen. Selbst mittellos, von Gelegenheitsarbeiten lebend, war sie doch entschlossen, ihre weitere aussichtsreiche akademische Laufbahn in diesem Staate abzubrechen […] Wenn man ihre Schwelle überschritt, trat man, fast atmosphärisch spürbar, in eine Zelle konspirativer Opposition.«
Edith Landmann hat für sich und die beiden Neuankömmlinge ein kleines, holz- und butzenscheibenbewehrtes Refugium im Haus zum Fälkli gemietet, das nur über die steilen Treppen der Basler Altstadt zu erreichen ist. Für 40 Franken Miete beziehen die drei Frauen mehrere knirschende und knarrende Stuben im ehemaligen Augustinerkloster auf dem Stapfelberg. In den verwinkelten Stockwerken gibt es nur ein richtig beheizbares Zimmer, das Edith Landmann den beiden jüngeren Frauen »bestimmt«. Marianne von Heereman erinnert sich:
»In der Mitte der alte verkratzte Esstisch, an dessen einem Ende die einfachen Haushaltsverrichtungen vor sich gingen, während an seiner anderen Schmalseite, zunächst dem kachelverkleideten Eisenöfchen, das Buch Patroklos und viele von Renatas Vorträgen entstanden. Bald
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