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Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus

Titel: Ich will keine Blaubeertorte, ich will nur raus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Heim
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»J« ist für Juden seit Ende 1938 nur noch mit endlosen Bestätigungen und Bestimmungen zu erhalten, und nun verfällt auch der Wert der Reichsmark vor aller Augen, was die Schiffspassagen nach Übersee in Dollar oder Pfund nahezu unbezahlbar macht.
    Marie hat seit 1938 eine Vormerknummer in der Warteliste für deutsche Staatsangehörige der »Quota Immigrant Visa« für die USA. Mit ihrem Affidavit und den 2000 US-Dollar ihrer New Yorker Cousine Louise Kaufman für die Schiffspassage hätte Marie im Jahr 1938 ohne hohe Hürden auswandern können, denn damals verfolgte das Außenministerium als »Endziel« der deutschen Judenpolitik noch die Emigration aller Juden ausdeutschem Territorium. Aber Marie kann sich nicht lösen – von ihrem Haus, ihren Sachen, ihren Freundinnen – und will auch ihre Tochter nicht zurücklassen. Ihr Ziel ist: Hin zu Ilse! Sie dankt und schreibt Louise, statt ihrer solle der Bruder Willi bedacht werden. Louise ist einverstanden und kabelt ihm das Reisegeld.
    Doch Willi Eisenberg lässt die Gelegenheit verstreichen. Marie gibt nicht klein bei und will wissen, wo Louises Dollars geblieben sind. Sie führt Buch in allen Dingen.

    Berlin, den 28.

November 1940
    Liebste Ille,

    schreibe bitte Onkel Willi, dass, falls von Louise noch etwas vorhanden, ich ihm sagen lasse, er solle es nicht anrühren; er hätte genug für Kochtöpfe und derlei Firlefanz in den Schornstein geschmissen; solange es seine eigene Sache war, ging es mich nichts an, obgleich jammervoll genug. Wenn ich Louises Depot noch hätte, käme ich, ohne mit der Nummer dran zu sein, nach USA.
    Natürlich müsste sie mir dazu ein neues Affidavit schicken, das alte ist inzwischen ungültig. Aber das geht alles nicht mehr durch meinen lieben Bruder. Er hat sich damit gerettet, sonst säße er ebenfalls bei den anderen und müsste verkommen, wie man hört.
    Also, sieh mal zu, Puppchen, was Du da noch machen kannst für Dich.
    Ilse erkundigt sich wie verlangt bei Willi und erhält nach dessen Freilassung Antwort:

    Weihnachten 1940
    Liebste Illemaus,

    was nutzen alle Selbstvorwürfe? Und wie kann ich Abrechnung geben? Einen Teil habe ich für mich verbraucht, ein Teil ist auf meiner Odyssee verschwunden, einen Teil musste ich jüngst, ein Kapitel für sich!, in Croissy lassen. Und von dem Rest halte ich mich noch hier über Wasser.
    Vielleicht bekommt es noch mal einen Sinn, dass ich durch dieses Geld weiterleben konnte und vielleicht nochmals Mutti helfen kann.

    Dein Onkel Willi
    Und an Louise schreibt er nach New York (der Schuhkarton hat die Durchschrift bewahrt):

    16.

Februar 1941
    Sehr geehrte Frau Kaufman,

    erst jetzt bin ich in der Lage, nachdem ich in den verschiedensten Camps viel durchgemacht habe, Ihnen einige Erklärungen über den Verbleib des Betrags zu geben, den Sie so gütigst meiner Schwester zur Verfügung gestellt haben. Durch meine alleinige Schuld und allerdings durch den unglücklichen Lauf der Ereignisse und deren direkte Folgen ist der Betrag verloren gegangen. Einen Teil verbrauchte ich noch für den gedachten Zweck in Paris, weitere Teile sind ohne meinen Willen zwangsläufig verloren gegangen, und einen Teil verbrauchte ich leider für mich, um mich noch eine Weile über Wasser zu halten. Ich allein bin für den Betrag verantwortlich, und ich kann niemandem eine Mitschuld geben, außer dem unseligen Ablauf der Ereignisse, die stärker waren als ich und die mich auch des größten Teils meiner Habe beraubt haben.
    Das damals von Ihnen gegebene Affidavit ist ja jetzt ungültig geworden, und ich bitte Sie herzlich, meine Fehler nicht meine arme Schwester entgelten zu lassen, sondern ihr ein neues Affidavit mit den neuerdings sonst noch erforderlichen weiteren Erklärungen zu geben.
    Helfen Sie ihr noch einmal, verehrte Frau Kaufman, und senden Sie ihr auf schnellstem Wege die erbetenen Papiere, damit sie sich, ehe es zu spät ist, noch retten kann.
    Vielleicht und hoffentlich bin ich noch einmal in der Lage, Ihnen alles Gute zu vergelten.

    Ihr sehr ergebener
Dipl. Ing. Willi Eisenberg
    Im Jahr 1940 verschlechtert sich die Möglichkeit einer Auswanderung dramatisch. Maries Wartenummer 12

990 ist »astronomisch« hoch, und die Bereitschaft der amerikanischen Cousinen Kaufman und Mills, ihr noch einmal zu helfen, nimmt spürbar ab. Andere Familienmitglieder aus der Linie von Felix Winter packen schneller zu und retten sich mithilfe der Dollar-Verwandschaft.
    Ilse muss nach der Ablehnung der

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