Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
unzutreffende Antwort: »Die Juden haben kein Privatleben mehr.«
7. Februar, Montag nachmittag
Voces populi: Auf dem Weg zu Katz, ein älterer Mann im Vorbeigehen: »Judas!« Auf dem Korridor der Krankenkasse. Ich pendle als einziger Sternträger vor einer besetzten Bank auf und ab. Ich höre einen Arbeiter sprechen: »Eine Spritze sollte man ihnen geben. Dann wären sie weg!« Meint er mich? Die Besternten? Ein paar Minuten später wird der Mann aufgerufen. Ich setze mich auf seinen Platz. Eine ältere Frau neben mir, flüsternd: »Der war gemeene! Vielleicht geht es ihm mal so, wie er’s Ihnen wünscht. Man kann nicht wissen. Gott wird richten!«
Notierte ich zur LTI schon: a) den Wortwitz: zu den Himmlerschen Heerscharen einberufen (von Hingerichteten), b) den schnoddrigen Berliner Wunsch (mir von mehreren Seiten berichtet): »Bleiben Sie übrig!«?
21. Februar
Abend
LTI. Ich schrieb erst vor zwei oder drei Tagen, es gebe keinen enzyklopädischen Stil mehr. Lewinsky zeigte mir gestern eine Karte aus Theresienstadt. Ein ihm befreundetes Fleischerehepaar, dem er »Päckchen« schickte – man jammert dort um Essen, dankt tausendmal für jedes Brotpaket –, von diesem Ehepaar also schreibt der Mann ein paar nichtssagende neutrale Zeilen und unterzeichnet »Witwer Wisch«. – Man darf keine Personalnachrichten, keinen Todesfall neu melden, und diese Unterschrift meldet ihn doch.
12. März, Sonntag vormittag
Eben war Frau Winde hier: eine kleine Tüte Kartoffeln – an denen allgemeine große Not herrscht –, ein Päckchen Trockengemüse, eine Dose Tomaten. Sie fragte besorgt, wie schon oft, ob ich nicht wüßte, wo mich verstecken, wenn es soweit wäre. Auch ihr Mann – »er hat so viele Feinde, weil wir wieder hochgekommen sind!« – wolle in den kritischen Tagen unsichtbar sein. Ich: Ich wüßte niemanden, sei auch zum Fliehen ungeeignet, überließemich meinem Schicksal. Eva: Ich sollte nach Kipsdorf, mich ein, zwei Nächte im Walde aufhalten, mit arischen Marken in Restaurants essen. Frau Winde: »Das kann er nicht. Er darf nicht unter Menschen, er fiele sofort auf. Es tut immer so weh. Ich habe zu meinem Mann gesagt: ›Durch die vielen Jahre der Verfolgung sieht der Herr Professor aus wie ein verprügelter Hund‹«. Sie wiederholte das zweimal, und es war mir gräßlich. Ich habe nie viel Haltung gehabt, jetzt aber gehe ich gebückt, meine Hände zittern, und der Atem versagt bei der geringsten Erregung. Ich merkte es erst gestern wieder. –
8. April, Sonnabend gegen Abend
Gespräch mit Stühler senior: »Ich will Zeugnis ablegen.« – »Was Sie schreiben, ist alles bekannt, und die großen Sachen, Kiew, Minsk etc., kennen Sie nicht.« – »Es kommt nicht auf die großen Sachen an, sondern auf den Alltag der Tyrannei, der vergessen wird. Tausend Mückenstiche sind schlimmer als ein Schlag auf den Kopf. Ich beobachte, notiere die Mückenstiche …« Stühler, eine Weile später: »Ich habe mal gelesen, die Angst vor einer Sache ist immer schlimmer als das Ereignis selber. Wie sehr graute mir vor der Haussuchung. Und als die Gestapo kam, war ich ganz kalt und trotzig. Und wie uns das Essen hinterher geschmeckt hat! All die guten Sachen, die wir versteckt und die sie nicht gefunden hatten.« – »Sehen Sie, das notiere ich!«
29. April, Sonnabend morgen
Am Mittwoch rief mir ein weißbärtiger Mann in der Frauengasse laut zu: »Judenhund!«
Abends
In der Zeitung erschien, geradezu gespenstisch aus dem Hades tauchend, eine Zusammenkunft des Führers mit dem Duce, von dem es so lange totenstill war. Die alten Schlagworte von Achse und Endsieg, wie anno dazumal. Der Duce besichtigte neu aufgestellte italienische »Divisionen«, die für die »fascistische Republik«, die Achse und Deutschland kämpfen werden. Anderntagerläuternd breittretende Artikel: Der Plan der Feinde sei gescheitert, der größte Teil Italiens sei fascistisch und Deutschlands Verbündeter. Es hätten nur nicht gleichzeitig Bilder des Duce erscheinen sollen. Der Mann, früher fest, feist, selbstgewiß caesarisch, ist jetzt hohlwangig und gebrochen, ein demütiger, schlecht genährter, kranker Diener und Sklave der Deutschen. Das Ganze ist eine, wie gesagt, gespenstische Reklamefarce und selbst für die Nationalsozialisten ein starkes, allzu starkes Stück.
30. April, Sonntag vormittag
Morgens Singen, Trommeln, Marschieren, Geschrei: Anmarsch und Aufstellung und Appell von Pimpfen, HJ- und BDM-Kolonnen auf der Carolabrücke.
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