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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Irgendeine Feierlichkeit im Stallhof. Ich habe einen Abscheu vor dieser Entindividualisierung und Massenzurichtung. Aber offenbar ist sie Gesamtzeichen der Epoche. Im fascistischen Rom, in Sowjetrußland, beim già Reichsbanner, auch in den Demokratien, in USA, teilweise in Großbritannien – überall das gleiche. Es gab auch vor dem ersten Weltkrieg schon solches Kollektivieren: die Volksschule, die allgemeine Wehrpflicht, die Sportvereine, die studentischen Verbindungen – aber es gab doch auch private, individuelle, familiäre Gegengewichte; und außerdem hielten sich die verschiedenen und gegensätzlichen Gruppen montesquieuartige Balance. Jetzt dagegen …
3. Mai, Mittwoch abend
    LTI . Mir fällt in Artikel-Überschriften als nazistisch die Häufigkeit des Wortes total (cf. 4. 5.) auf. »Totale Erziehung« – »Totale Abschnürung des Feindes«. – Die Wirkung der Propaganda: Frau Belka fragte mich schon wiederholt: »Haben Sie eine deutsche Frau?« – »Hat Jacobi eine deutsche Frau?« Usw. Mich erschüttert das mehr als das Fremdwort »arisch«. Es zeigt, wie sehr die »totale Abschnürung« der Juden im Volksbewußtsein geglückt ist. –
4. Mai, Donnerstag abend
    LTI . Heute früh im Vorbeigehen (Kampf mit dem Wind, Herznot) in einem Schaufenster der Amalienstraße ein Brettspiel angezeigt als »Das totale Spiel« (cf. 3. 5.)
6. Mai, Sonnabend früh
    Gestern ein aufschubloseres und grausameres Todesurteil als bei der Angina-Diagnose. Ein Augenmuskel, der obliquus inferior des linken Auges, ist gelähmt. Das Auge wird durch ein mattiertes Glas ausgeschaltet, zu reparieren ist es nicht. »Bei der Lesebrille können Sie Seidenpapier über das linke Glas kleben.« Wieviel Arbeit werde ich mit einem Auge leisten können? Und wieviel Zeit bleibt mir? Ursache wahrscheinlich Zucker – daher der qualvolle Durst der letzten Zeit. Hergang: ein minimaler, aber doch ein erster Schlaganfall. Ich habe gehofft, an der Angina auf anständige Weise zu sterben. Was macht der zweite Schlaganfall aus mir? Einen Haufen Blödsinn im beschissenen Bett wie aus Grete, wie aus Vater? Soll sich Eva vor mir ekeln und mit mir plagen? Aber ich habe kein Veronal, ich habe keinen Mut, und ich muß ja das 3. Reich zu überleben suchen, damit Evas Witwenpension sichergestellt wird. –
12. Mai, Freitag nachmittag
    Katz hat meine Nervenreflexe untersucht, auch eine Wassermannprobe gemacht (eigentümlich, wenn sich das Röhrchen mit dem eigenen Blut füllt). Ich soll nun von Montag an eine Woche etwa wieder in der Fabrik arbeiten, mit romantischer Binde um das kranke Auge, da die mir verschriebene Brille nicht so bald beschaffbar, danach mich wieder krank melden. Dann wird das Interesse der Krankenkasse ins Spiel gebracht, mein guter Wille, meine Augenlähmung betont und die Dienstentpflichtung beantragt werden. Inzwischen geht ein demütiges Bittgesuch an Herrn Mutschmann, mir einen Teil meines Ruhegehalts zu bewilligen, da sowohl ich als meine arische Ehefrau erwerbsunfähig seien. »Wir müssen auf Mutschmanns primitive Mentalität Rücksichtnehmen,« sagte Neumark. Nichts fordern, nur demütig um einen Teil bitten! Wir schrieben nur »Prof. der Technischen Hochschule«. Keineswegs »Kulturwissenschaftliche Abteilung«. Das würde ihn reizen – ein Jude und die deutsche Kultur! – So sehen unsere Erwägungen aus. Neumark schlug vor: »… wenigstens einen Teil des Ruhegehaltes zu zahlen.« – Ich: »wenigstens« werde reizen. Also strichen wir »wenigstens«. Auch das gehört wohl zur LTI. –
    Unten die Baracken. Gerade vor, genauer: hinter unserem Haus geht es friedlich vergnügt zu. Eine Gruppe russischer Schuster, die Heimarbeit und offenbar ziemliche Freiheit haben, obwohl sie Kriegsgefangene sind. Sie tragen anständige grüne Uniformen, sie spielen auf dem Hof Ball, sie sind immer vergnügt; sie hocken in Gruppen, einer zupft die Balalaika, singt, einer schneidet einem Kameraden die Haare. Vergnügte Gutmütigkeit untereinander, Freundschaft mit den Wachtposten. Einmal ist mir einer dieser Jungen entgegengelaufen und hat mir den Kohlenhandwagen lachend und spielend in den Hof geschoben. – Dagegen die Baracken im Hof der Zeughausstraße 1: düster geschlossen, nur ganz hoch oben abgeblendete Fensterschlitze, ständig ein Posten mit Gewehr im leeren Hof – die Leute sieht man nur im geschlossenen Zug von der Arbeit kommen oder Essen holen oder Wagen schieben. Es sind Zivilgefangene, da ist eine slawische Dépendance des

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