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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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PPD.
19. Mai, Freitag nachmittag
    Seit gestern wieder »krank geschrieben«, (Gehört wohl auch zur LTI. Alle Welt hat mit der Krankenkasse und dem Vertrauensarzt zu tun.)
    Mit Katz war verabredet, ich solle »zehn bis zwölf Tage« arbeiten, dann mich wieder krank melden, er werde darauf meine »Entpflichtung« einleiten.
    Abends gegen acht Uhr
    Den 16. Mai verlebten wir recht wehmütig, beinahe ohne Hoffnung. Eva schenkte mir zwei Nachthemden, die sie aus altemVorhangstoff gearbeitet hat. Ich hatte für sie ein Zigarillo, das mir neulich Glasers zugedacht hatten. Sie mußte es sich aber von dort holen, denn Glaser hatte nicht gewagt, es mir mitzugeben. Es konnte doch bei mir gefunden, seine Herkunft eruiert werden. – Mir selber war der Tag doppelt verdüstert: durch das Auge und durch die tags zuvor eingetroffene Nachricht von Sußmanns Tod.
    Martin Sußmann † 8. 4. 44 in Stockholm am Magen- und Leberkrebs. Ich hatte die Nachricht erwartet, und sie traf mich doch hart. Ganz egoistisch: Sußmann war meine letzte Verbindung mit der Außenwelt, auch hätte ich gar zu gern nach dem Krieg Erlebnisse mit ihm getauscht. Aber auch wirkliche Zuneigung hatte ich für ihn. Er hat mir immer Freundschaft und Treue erwiesen, und in unserer ärgsten Bedrängnis nahm er sich Evas an, als wir noch ganz illegitim waren.
26. Mai, Freitag früh, sechs Uhr
    Maschine 49 genau so, wie ich sie vor acht Tagen verließ. Nur die Kuverts haben anderen Firmenaufdruck. Die Nachbarin hilft beim Papierziehen, ich kam auf 23 000 Stück, ich kam leidlich über den Tag, nur ist der Tag eine absolute Leere, vom Tod kaum unterschieden. Inzwischen ist Jacobi als Transportarbeiter zu Bauer hinüber.
    Abends
    Heute, nach langer Pause, wurde ich von Meister Hartwig wieder mal furchtbar angebrüllt. Es geht mir sehr auf die Nerven. »Der letzte Mann« – ich denke an den Janningsfilm von dem zum Abortdiener degradierten großen Hotelconcierge. Und ich denke in solchen Momenten der Erniedrigung daran, daß Neubert Ordinarius in Berlin ist. Hinterher, ich kenne das schon, bereut Hartwig und sucht mir väterlich zärtlich zu zeigen, wie einfach das Verlangte ist. »So einfach!« Zwei lockere Handgriffe, und die Kuverts liegen glatt im Karton. »Ich begreife nicht, daß Sie das nicht lernen!« Aber meine Finger geben es nicht her. –
    Meine Augen quälen täglich mehr, und ich habe gar keine Hoffnung auf Besserung.
4. Juni, Sonntag mittag
    Affäre Frischmann. Frischmann ist Haarschneider, Schuster, Markenhändler, Allerweltsmann im Hause. Seine Tochter, Anfang zwanzig, vollbusig, frisch, jüdisch erzogener Mischling und also Sternträgerin, kam mir einmal beim Kohlentragen zu Hilfe. Vor zwei Tagen sind Mutter und Tochter verhaftet worden: Briefwechsel der Ilse Frischmann mit einem der vergnügten Russengefangenen entdeckt. Der Russe ist gleich in die Baracken nebenan gebracht worden; die beiden Frauen, mindestens die Tochter, rettungslos verloren. Auf dem Barackenhof ist es still, kein Blasen und Klimpern mehr, kein Ballspiel, kein Turnen. – Das Mißtrauen der Juden untereinander: Wir beide erfuhren die Affäre erst lange post festum, alles war geheim im Flüsterklatsch fortgepflanzt worden, nicht nur unser Haus, sondern auch der Friedhof wußte es schon seit sechsunddreißig Stunden.
8. Juni, Donnerstag gegen Abend
    Gestern bei Katz. Er untersuchte mich offiziell für den Entpflichtungsantrag und fand, im ungeeigneten Moment, mein Herz etwas besser. Er will nun fordern, daß ich entweder eine Schreibarbeit bekomme (die mit einem Auge zu bewältigen ist) oder entpflichtet werde. Allgemeine Bestimmung: Niemand darf vor 65 Jahren entpflichtet werden, auf Leiden wird keine Rücksicht genommen. Sonderbestimmung: Juden dürfen nicht in Büros, nicht mit Schreibarbeiten beschäftigt werden. Welche Ausnahme wird der Gestapo leichter fallen, Verstoß gegen Punkt 1 oder 2? Ich fürchte sehr, daß dieser Antrag böse für mich ausgeht. –
    Der »Konsulent« Neumark teilt in Guillemets mit, »daß ›der Herr Reichsstatthalter die Zahlung eines Teiles des Ruhegehaltes an Victor Israel Klemperer abgelehnt hat‹«.
10. Juni, Sonnabend vormittag
    Das fröhliche Lagerleben der russischen Schuster unten hat ein Ende, die Musik schweigt. Ist der Fall Frischmann daranschuld oder die Invasion? Jedenfalls werden sie strenger gehalten; Frau Cohn berichtete gestern entsetzt, sie habe vom Treppenfenster aus die brutale Verprügelung eines Russen durch den Wachtposten mit

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