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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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vor der Gestapo, die sie ermorden könnte vor dem Eintreffen der Russen; die Arier vor den Russen, Juden und Arier vor der Evakuierung, vor dem Hunger. An ein rasches Ende glaubt keiner, und Jud und Christ fürchten auch gemeinsam die Bombenangriffe. Heute früh briet Eva eine Extrawurst für uns. Wenn die Russen kommen, sagte sie, werden die Brücken gesprengt; dann müssen wir aus unserm Haus bestimmt heraus; entweder der Sprengung halber, oder weil es zur Verteidigung hergerichtet wird. – Wir mußten beide lachen, wie wir so als Selbstverständlichkeit beim Frühstück besprachen, was uns früher romanhaft erschienen wäre. Im Grunde fürchten wir gar nichts mehr, weil wir ja immerfort, in jeder Stunde, alles zu befürchten haben. Man stumpft ab.
13. Februar, Dienstag nachmittag bei vollkommenem Frühlingswetter
    Odysseus bei Polyphem. – Gestern nachmittag ließ mich Neumark hinüberrufen; ich müßte heute vormittag beim Austragen von Briefen behilflich sein. Ich nahm das ahnungslos hin. Abends war Berger eine Weile bei mir oben, ich erzählte es ihm, und er sagte geärgert, das werde um Schanzarbeit gehen. Noch immer erfaßte ich nicht die Schwere der Bedrohung. Um acht Uhr war ich dann heute bei Neumark. Frau Jährig kam weinend aus seinem Zimmer. Dann sagte er mir: Evakuation für alle Einsatzfähigen, es nennt sich auswärtiger Arbeitseinsatz, ich selber als Entpflichteter bleibe hier. Ich: Also für mich sicherer das Ende als für die Herausgehenden. Er: Das sei nicht gesagt, im Gegenteil gelte das Hierbleiben als Vergünstigung; es bleibe ein Mann, dem zwei Söhne im ersten Weltkrieg gefallen, ferner er, Neumark, weiter Katz (wohl als EK-I-Träger, nicht als Arzt, denn Simon kommt fort), Waldmann und ein paar Schwerkranke und Entpflichtete. Mein Herz streikte in der ersten Viertelstunde vollkommen, später war ich dann vollkommen stumpf, d. h., ich beobachtete für mein Tagebuch. Das auszutragende Rundschreiben besagte, man habe sich am Freitag früh im Arbeitsanzug mit Handgepäck, das eine längere Strecke zu tragen sei, und mit Proviant für zwei bis drei Reisetage in der Zeughausstraße 3 einzufinden. Vermögens-, Möbel- etc. Beschlagnahme findet diesmal nicht statt, das Ganze ist ausdrücklich nur auswärtiger Arbeitseinsatz – wird aber durchweg als Marsch in den Tod aufgefaßt. Dabei kommen die grausamsten Zerreißungen vor: Frau Eisenmann und Schorschi bleiben hier, Lisl, die elfjährige Sternträgerin, muß mit Vater und Herbert fort. Man nimmt auf Alter weder nach oben noch nach unten, weder auf siebzig noch auf sieben Rücksicht – es ist unbegreiflich, was man unter »arbeitsfähig« versteht. – Ich hatte erst Frau Stühler zu benachrichtigen, sie erschrak wilder als über den Tod des Mannes und raste mit starren Augen fort, Freunde für ihren Bernhard zu alarmieren. Dann fuhr ich, ich durfte fahren, mit einer Liste von neun Namenins Bahnhof- und Strehlener Viertel. Simon, nur erst halb bekleidet, bewahrte gute Fassung, während seine sonst robuste Frau fast zusammenbrach. Frau Gaehde in der Sedanstraße, sehr gealtert, riß die Augen übermäßig auf, öffnete immer wieder den Mund so weit, daß das vorgehaltene Taschentuch fast darin verschwand, und protestierte wild mit krampfhaftem Mienenspiel und leidenschaftlichster Betonung: Sie werde bis zum letzten gegen diese Verordnung kämpfen, sie könne nicht fort von ihrem zehnjährigen Enkel, ihrem siebzigjährigen Mann, ihr Schwiegersohn sei im Ausland gefangen »um der deutschen, der deutschen Sache willen«, sie werde kämpfen usw. Frau Kreisler-Weidlich, vor deren Hysterie ich mich gefürchtet hatte, war nicht zu Hause, ich warf das Blatt erleichtert in den Briefkasten. In derselben Franklinstraße hatte ich noch eine Frau Pürckhauer aufzusuchen. Ich traf sie mit ihrem arischen und tauben Mann. Kleine Leute. Sie waren die ruhigsten von denen meiner Liste. Schlimm war trotz ihrer Beherrschtheit eine Frau Grosse in der Renkstraße, hübsches Villenhaus an der Lukaskirche. Eine Frau mittleren Alters, eher damenhaft; sie wollte ihren Mann anrufen, stand hilflos am Telefon: »Ich habe alles vergessen, er arbeitet in einer Konfitürenfirma … mein armer Mann, er ist krank, mein armer Mann … ich selber bin so herzleidend …« Ich sprach ihr zu, es würde vielleicht nicht so schlimm, es könne nicht lange dauern, die Russen stünden bei Görlitz, die Brücken hier seien unterminiert, sie solle nicht an Tod denken, nicht von Selbstmord

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