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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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wir mit den Nerven total auf dem Hund.
    Die angstvollen Andeutungen und bruchstückhaften Erzählungen aus Buchenwald – Schweigepflicht, und: ein zweites Mal kommt man von dort nicht zurück, es sterben eh schon zehn bis zwanzig Leute täglich – sind greulich.
    Mit dem Bibliotheksverbot bin ich nun buchstäblich arbeitslos geworden. Ich habe mir vorgenommen, nun wirklich einen Vita-Versuch zu wagen. Denn den ganzen Tag bloß den Little Yankee pauken geht auch nicht. Aber vorderhand fehlt alle Ruhe: Gänge, Korrespondenzen, Vorlesen, Brüten und wieder Vorlesen.
15. Dezember, Donnerstag
    Ich nehme es jetzt ernster und sehr ernst mit dem Englischlernen. Mal ein Kapitel im Little Yankee und mal ein Abschnitt Grammatik. Und eben von halb vier bis fünf hatte ich meine erste anstrengende und nicht ganz erfolglose Lektion bei Mrs. Meyer. Natscheff hat sie mir empfohlen. Seine Frau ist Amerikanerin und mit ihr befreundet. Siebenundfünfzig Jahre, eigentlich Musikerin und Organistin an der Amerikanischen Kirche. Aber die Kirche ist deutsche Stiftung, und die Meyer ist jüdischer Abstammung, und also hat sie ihren Posten verloren und darf auch Ariern keinen Unterricht geben. Sie ist Engländerin, ihr Mann ein unglaublich rüstiger Zweiundachtzigjähriger, sieht aus wie höchstens fünfundsechzig, Deutscher, pensionierter Opernchorsänger. Ich war bei den Leuten im vierten Stock eines guten Hauses in der Feldherrenstraße, wurde freundlich in der Wohnküche aufgenommen; ein großer Vogelkäfig und Zärtlichkeit gegen die kleinen Sittiche mit Herausnehmen und Küssen, dazu Tränen über die Situation und Emigrationsgedanken und Angst um die Pension und Angst, bei sich zu Haus zu unterrichten. So kam sie heut heraus. Je anderthalb Stunden für 3 M und 30 Pf Fahrgeld dazu. Ich will das brav betreiben.
    Erschütternde Briefe – genauer und ehrlicher: Briefe, die erschütternd wären ohne die vorhandene Abstumpfung und die Dasselbigkeit des eigenen Schicksals – von Sußmann und Jelskis. In beiden Briefen teilweise wörtlich das gleiche: Wir gehen als Bettler heraus, auf die Hilfe unserer Kinder angewiesen. Sußmann nach Stockholm, zu seiner dort verheirateten Jüngsten. Jelskis zu Lilly nach Montevideo. Die Reformgemeinde ist aufgelöst, die Pension fällt weg, es wird eine Abfindungssumme gezahlt, mit der sich die Passage bestreiten läßt.
25. Dezember, Sonntag
    Eva schnitt ein paar Zweige von einer Tanne in unserm Garten und ordnete sie zum Bäumchen auf dem Gestell einer Tischlampe; wir tranken eine Flasche Graves zur Zunge, und dergefürchtete Weihnachtsabend verlief vergnüglicher, als ich zu hoffen gewagt.
    Gestern zum erstenmal im dritten Reich ist die Weihnachtsbetrachtung der Zeitung gänzlich dechristianisiert. Großdeutsche Weihnacht – der deutschen Seele die Neugeburt des Lichtes, die Auferstehung des deutschen Reiches bedeutend. Der Jude Jesus und alles Geistliche und allgemein Menschliche ausgeschaltet. Das ist fraglos Ordre für alle Zeitungen.
Silvester 38, Sonnabend
    Ich las gestern flüchtig das Tagebuch 1938 durch. Das Résumé von 37 behauptet, der Gipfel der Trostlosigkeit und des Unerträglichen sei erreicht. Und doch enthält das Jahr, mit dem heutigen Zustand verglichen, noch soviel Gutes, soviel (alles ist relativ!) Freiheit.
    Bis Anfang Dezember hatte ich die Bibliotheksbenutzung, und bis zu dieser Zeit habe ich hundert und ein Dutzend guter Seiten am Dix-huitième geschrieben (vom Retour à l’antique bis zu Rétif). Und bis zum Dezember etwa hatte ich noch den Wagen zur Verfügung, und wir konnten uns bewegen. Piskowitz, Leipzig, der Schwartenberg, Rochlitz, Augustusburg, Bautzen, Hinterhermsdorf, Strausberg und Frankfurt a. O. im April. Das schöne Breslau am 16. Mai, noch einmal Strausberg am 6. Oktober zu Gretes 70. Geburtstag, die Berliner Fahrt mit der Krankheit und dem Unfall, noch einmal Leipzig. Und so viele kleine Fahrten und die Freiheit der Besorgungen. – Und dann von Zeit zu Zeit das Kino, das Auswärtsessen. Es war doch ein Stückchen Freiheit und Leben – mag es auch jämmerlich gewesen sein und uns mit Recht schon als Gefangenschaft gegolten haben.
    Gewiß ging es im Lauf des Jahres immer deutlicher abwärts. Erst der österreichische Triumph. Dann vom Ende Mai ab das Fortbleiben der Lehmann. (Für uns persönlich empfindlicher als der Großdeutschlandrummel.) Dann im September die gescheiterte Hoffnung auf den erlösenden Krieg. Und dann eben der entscheidende Schlag. Seit

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