Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Zimmer x. Dort: »Hier die neue Zuführung!« Wieder Warten. Nach einer Weile erschien ein junger Mann mit Parteiabzeichen, offenbar der Untersuchungsrichter. »Sie sind Professor Doktor Klemperer? Sie können gehen. Aber es muß ein Entlassungsschein ausgestellt werden, sonst meint die Gendarmerie Freital, Sie seien ausgebrochen, und verhaftet Sie wieder.« Er kam gleich darauf wieder, er habe telefoniert, ich könne gehen. Am Flügelausgang beim ersten Zimmer, in das ich gebracht worden war, stürzte mir ein Schreiber entgegen: »Wo wollen Sie hin?« Ich sagte: »Nach Hause« und blieb ruhig stehen. Man telefonierte, ob es mit meiner Entlassung seine Richtigkeit habe. Der Untersuchungsrichter hatte mir noch auf meine Anfrage gesagt, die Sache gehe nicht an die Staatsanwaltschaft weiter. Um vier stand ich wieder auf der Straße mit dem merkwürdigen Gefühl: frei – aber bis wann? Seitdem peinigt uns beide unablässig die Frage: Gehen oder bleiben? Zu früh gehen, zu lange bleiben? Ins Nichts gehen, im Verderben bleiben? Wir bemühen uns immerfort, alle subjektiven Gefühle des Ekels, des verletzten Stolzes, alles Stimmungshafte auszuscheiden und nur die Konkreta der Situation abzuwägen. Zuletzt werden wir das pro et contra buchstäblich erwürfeln können. Unter dem ersten Eindruck hielten wir ein Fortmüssen für absolut notwendig undbegannen mit Vorbereitungen und Erkundigungen. Ich schrieb am Tag nach der Verhaftung, am Sonnabend, 12. 11., dringende SOS-Briefe an Frau Schaps und Georg. Der kurze Brief an Georg begann: »Sehr schweren Herzens, aus ganz veränderter Situation, ganz an den Rand gedrängt, ohne Details: Kannst Du für meine Frau und mich Bürgschaft leisten, kannst Du uns beiden für ein paar Monate drüben helfen?« In persönlicher Bemühung würde ich sicher irgendeinen Posten als Lehrer oder im Büro finden. – Ich telefonierte an Arons – der Mann hatte mich am Tage des Münchner Abkommens am Bismarck angesprochen. Herr Aron sei nicht anwesend, Frau Aron würde mich abends gegen acht empfangen. Ich fuhr hin: eine reiche Villa in der Bernhardstraße. Ich erfuhr, daß er und mit ihm überviele andere verhaftet und verschleppt seien; man weiß noch heute nicht, ob sie im Lager Weimar sind oder bei den Befestigungsarbeiten im Westen als Sträflinge und Geiseln verwendet werden.
28. November
Frau Aron riet dringend, sofort Schritte zur Auswanderung und zum Verkauf des Hauses zu tun; hier sei alles verloren, das deutsche Geld im Ausland fast entwertet, die Mark stehe auf sechseinhalb Pfennig. Auf Frau Arons Rat am nächsten Tag in der Prager Straße bei der gemeinnützigen Beratungsstelle für Auswanderer (der Leiter, ein Major Stübel, sei ein sehr humaner Herr). Im Vorzimmer eine blonde, üppige Ostjüdin zu einem Mädchen: »Sie haben uns auf dem Polizeipräsidium weggeschickt, sie wüßten nicht, wohin die Männer gebracht worden seien …« Der alte Major sagte mir: »Sie können sich zwischen diesen vier Wänden ruhig aussprechen. Ich höre in diesen Tagen sehr viel Erschütterndes, ich laufe in meiner freien Zeit im Großen Garten spazieren, um mich zu beruhigen.« Ich setzte meine Lage auseinander. Ich sagte, eine Regierung, die sich derart offen zum Banditentum bekenne, müsse in verzweifelter Lage sein. Er: »So denkt jeder anständige Deutsche.« Was er mir rate? – Er könne nicht raten. »Ändert sich die Lage morgen (was ich nichtglaube), dann tut es Ihnen leid, gegangen zu sein.« Aus seinen Erklärungen ging hervor, daß man uns tatsächlich nackt und bloß herauslassen würde, mit je sechzig Mark und mit siebeneinhalb Prozent vom Erlös des Hauses.
2. Dezember
Am Sonntag, 13. 11., fuhren wir nach Leipzig zu Trude Öhlmann. Ob sie unsern Mujel übernehmen könne? – Nein, er würde sich doch nicht umgewöhnen, ihn töten lassen sei humaner. Sie erzählte, wie in Leipzig die SA angetreten sei, Benzin in die Synagoge und ein jüdisches Warenhaus gegossen habe, wie die Feuerwehr nur die umliegenden Gebäude schützen durfte, den Brand aber nicht zu bekämpfen hatte, wie man dann den Warenhausbesitzer als Brandstifter und Versicherungsbetrüger verhaftete. In Leipzig erfuhren wir auch die Milliardenbuße, das deutsche Volk habe die Juden gerichtet … Trude zeigte uns ein offenes Erkerfenster ihr gegenüber. So steht es seit Tagen offen; die Leute sind »geholt« worden. Sie weinte, als wir abfuhren. Unterwegs gaben Evas Nerven immer mehr nach; ein Abendbrot in Meißen half wenig,
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