Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
betroffenen deutschen Juden begehen ein Verbrechen – freilich muß man ihnen mildernde Umstände zubilligen –, wenn sie auf dieses Spiel eingehen. Es gehört zur Lingua tertii imperii, daß in den »Jüdischen Nachrichten« immer wieder der Ausdruck jüdische Menschen auftaucht, immer wieder von zu gründenden Judenstaaten oder Judenkolonien die Rede ist als von größerenDependenzen des idealen Palästina. Und es ist eine Sinnlosigkeit und ein Verbrechen wider die Natur und Kultur, wenn die westeuropäischen Emigranten nun durchaus in Landarbeiter umgewandelt werden sollen. Das Zurück zur Natur erweist sich tausendmal als eine Naturwidrigkeit, weil Entwicklung in der Natur liegt und Zurückdrängung gegen die Natur ist. Lösung der Judenfrage kann nur in der Erlösung von denen gefunden werden, die sie erfunden haben. Und die Welt – denn nun ist ja wirklich die Welt davon betroffen – wird dazu gezwungen sein.
5. Februar, Sonntag
In vierzehn Tagen nicht die leiseste Änderung in Situation und Stimmung. Die gleiche scheußliche Leere des Tages, das gleiche fruchtlose Bemühen um das Englische, Unterricht, Lektüre, Grammatik – nichts fördert. Evas Nerven sehr schlecht, ich lese viele Nacht- und Tagesstunden vor. Augenbeschwerden, Herzbeschwerden. Stücke der Vita gehen mir durch den Kopf – ich schreibe nichts. – Auf die vielen Bewerbungen keine Antwort. – Politisch immer das gleiche. Deutschland allmächtig, mit Spanien geht es zu Ende. Judenhetze immer verstärkt: In seiner »Reichstagsrede« vom 30. Januar machte Hitler wieder aus allen Gegnern Juden und drohte mit der »Vernichtung« der Juden in Europa, wenn »sie« den Krieg gegen Deutschland heraufbeschwören würden. Er gab sich als Mann des Friedens, und in den nächsten Tagen wurde die Vermehrung der U-Boote und der Luftflotte angekündigt.
24. Februar, Freitag
Nachdem ich vorher ein paarmal zögernd zur Einleitung (»Papiersoldaten«) angesetzt hatte, ohne sie durchzuführen, begann ich am 12. 2. – Vaters Todestag –, um mich vom eigentlichen Erzählenkönnen oder Nichtkönnen zu überzeugen, das erste Kapitel der Vita, verbiß mich darein und schrieb es bis gestern zu Ende. Ich will es nun in die Maschine bringen und danach Eva vorlesen; sie mag entscheiden, ob sich die Fortsetzung lohnt. Natürlichlitt unter dieser mich sehr okkupierenden Beschäftigung das Englische, wurde aber nicht ganz stillgelegt. Übrigens tat mir das Schreiben wohl, der entsetzliche Leerlauf war unterbrochen. Sonst keinerlei Veränderung; die Aussichten hinauszukommen sind gleich null, und da sich in den letzten Wochen für uns persönlich nichts zum Schlechteren gewandt hat – ich unterzeichne jetzt auf der Bank: Victor Israel Klemperer, aber ich bekomme doch noch meine Pension, es ist mir auch noch kein Termin für die Aufgabe des Hauses gestellt worden –, so leben wir eben fatalistisch weiter. Nur daß Evas Nerven immer mehr nachlassen.
6. März, Montag
Zur Sprache: In allen Übersetzungen stößt man immer wieder auf stur . Hitlers entschiedenster Beitrag zur Sprache. – Das Wort Marxist . Sozialisten sind, wenn echt, Nationalsozialisten; die andern sind Marx’ Judenknechte.
14. März, Dienstag
Die letzten Tage setzte ich einige Hoffnung auf die slowakische Angelegenheit. Sie ist so offensichtlich von Berlin aus inszeniert, um die Tschechei ganz zu vernichten und den Weg zur Ukraine zu öffnen. Ich sagte mir, selbst wenn England und Frankreich wieder untätig zusähen, so bedeute das doch einen Schritt weiter in Deutschlands Gewaltpolitik und damit einen weiteren Schritt der Katastrophe entgegen. Aber wie nun nach der heutigen Abendzeitung das abgekartete Spiel so ganz rasch und glatt und völlig von Deutschland gewonnen scheint, während England und Frankreich die Schwänze einklemmen, ist mir doch wieder hundeelend zumut.
Am 10. holte ich meine Kennkarte vom Landratsamt, wie die Amtshauptmannschaft jetzt heißt: großes J auf der Vorderseite, Abdrücke beider Zeigefinger, Victor Israel.
9. April, Ostersonntag
Heute morgen, als Antwort auf unseren Ostergruß mit Einladung zum Mittwoch, ein Brief von Moral: ebenso trostlos; er sei einsam, ohne Hoffnung, er komme gern, wenn er am Mittwoch noch lebe – anders könne man ja jetzt keine Zusage fassen. So schreibt dieser Mann der zeremoniellsten Form! Auch von Lissy Meyerhof ein viel bedrückterer Brief, als sonst in ihrer Art liegt. (Es geht Berthold Meyerhof in New York sehr schlecht; er ist
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