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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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grüßt seinen großen Führer . Und es ist auch wirklich ein Ungeheures erreicht. Aber wir sind nun zur Negersklaverei, zum buchstäblichen Pariatum verurteilt bis an unser Ende. Einen halben Tag lang meinte ich, nun müßte der Mut zum Selbstmord aufgebracht werden. Dann kam wieder der alte Zustand: Stumpfheit, Wartenwollen, der Ausspruch der Krügerin: »Ihnen ist so vieles geblieben, Lebenswille und doch auch wieder Hoffnung. Jede Stunde kann Änderung bringen, jede Stunde, in der man noch lebt.« Aber wenn mich Muschelchen nachts weckt und ich kann nicht gleich wieder einschlafen, dann ist es schrecklich. Trotzdem: weiter, und nicht an das nächste Morgen gedacht.
9. Oktober, Sonntag
    Mein Geburtstag. Natürlich die allerfatalste Stimmung, verstärkt durch die erhaltenen durchweg trübseligen Briefe.
    Wie es auch politisch kommen mag, ich bin innerlich endgiltig verändert. Mein Deutschtum wird mir niemand nehmen, aber mein Nationalismus und Patriotismus ist hin für immer. Mein Denken ist jetzt ganz und gar das voltairisch kosmopolitische. Jede nationale Umgrenzung erscheint mir als Barbarei. Vereinigte Weltstaaten, vereinigte Weltwirtschaft. Das hat nichts mit Gleichförmigkeit der Kulturen und erst recht nichts mit Kommunismus zu tun. Voltaire und Montesquieu sind mehr als je meine eigentlichen Leute.
22. November
    Erst war es wohl der Wille, ein Stückchen in der Arbeit vorwärtszukommen, ehe ich wieder eine Tagebuchnotiz machte, und dann kam Unheil über Unheil, man kann wohl sagen: Unglück. Erst Krankheit, dann der Autounfall, dann, im Anschluß an diePariser Grünspan-Schießaffäre, die Verfolgung, seitdem das Ringen um Auswanderung.
27. November
    Am Vormittag des 11. zwei Gendarmen und ein »Dölzschener Einwohner«. Ob ich Waffen hätte? – Bestimmt meinen Säbel, vielleicht noch das Seitengewehr als Kriegsandenken, ich wüßte aber nicht, wo. – »Wir müssen Ihnen suchen helfen.« Stundenlange Haussuchung. Eva beging im Anfang den Fehler, dem einen Gendarm ganz harmlos zu sagen, er möge in den reinen Wäscheschrank nicht mit ungewaschenen Händen greifen. Der Mann schwer beleidigt, kaum zu beruhigen. Ein zweiter, jüngerer Gendarm benahm sich freundlicher, der Zivilist war der schlimmste. »Dreckstall« usw. Wir sagten, wir seien seit Monaten ohne Hilfe, es stünde vieles verstaubt und verpackt herum. Alles wurde durchwühlt, Kisten und von Eva gezimmerte Aufbauten wurden mit dem Beil aufgebrochen. Der Säbel wurde in einem Koffer auf dem Boden gefunden, das Seitengewehr nicht. Unter den Büchern fand man ein Exemplar der »Sozialistischen Monatshefte«, darin, zum Glück angestrichen, der Artikel eines Berliner Studienrats: »Französisch muß erste Fremdsprache sein!« Auch dies Heft wurde beschlagnahmt. Als Eva einmal ein Handwerkszeug holen wollte, lief der junge Gendarm hinter ihr her; der ältere rief: »Sie machen uns mißtrauisch, Sie verschlechtern Ihre Lage.« Um eins etwa zogen Zivilist und älterer Gendarm ab, der junge blieb und nahm ein Protokoll auf. Er war gutmütig und höflich, ich hatte das Gefühl, die Sache sei ihm selber peinlich. Übrigens klagte er über Magenbeschwerden, und wir boten ihm einen Schnaps an, den er ablehnte. Dann schien im Garten eine Konferenz der drei zu sein. Der junge erschien wieder: Sie müssen sich anziehen und zum Gericht am Münchner Platz mitkommen. Es wird nicht schlimm werden, wahrscheinlich (!) sind Sie am Abend zurück. Ich fragte, ob ich verhaftet sei. Er sagte gutmütig und ausweichend, es sei ja nur ein Kriegsandenken, wahrscheinlich käme ich gleich frei. Ich durfte mich rasieren (bei halb offener Tür), ichsteckte Eva Geld zu, und wir gingen zur Elektrischen hinunter. Ich durfte allein durch den Park gehen, während der Gendarm im Abstand hinter mir sein Rad führte. Wir stiegen auf den Perron der Sechzehn, wir stiegen am Münchner Platz aus, der Gendarm kaschierte freundlich meine Abführung. Im Gerichtsgebäude ein Flügel »Staatsanwalt«. Ein Zimmer mit Schreibern und Polizisten. »Setzen Sie sich.« Der Gendarm mußte sein Protokoll kopieren. Er nahm mich in ein Zimmer mit Schreibmaschine. Er führte mich in den ersten Raum zurück. Ich saß stumpfsinnig. Der Gendarm sagte: »Vielleicht sind Sie schon zum Kaffee zu Haus.« Ein Schreiber sagte: »Die Staatsanwaltschaft entscheidet.« Der Gendarm verschwand, ich saß stumpfsinnig weiter. Dann hieß es: »Führen Sie den Mann zum Austreten«, einer führte mich zum Klosett. Dann: Nach

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