Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
zu Haus bekam sie einen Schreikrampf.
3. Dezember, Sonnabend
Heute ist der »Tag der deutschen Solidarität«. Ausgehverbot für Juden von zwölf bis zwanzig. Wie ich eben um halb zwölf zum Briefkasten und zum Krämer ging, wo ich warten mußte, hatte ich richtige Herzbeklemmungen. Ich ertrage es nicht mehr. Gestern abend Anordnung des Innenministers, die Ortsbehörden könnten fortan von sich aus den Juden zeitliche und örtliche Beschränkungen im Straßenverkehr auflegen. Gestern nachmittag auf der Bibliothek der Ausleihbeamte, Striege oder Striegel, Mann mittlerer Stellung und Jahre, Stahlhelmer, derselbe, dem Gerstles auf meine Vermittlung Bücher hinterließen: Ich solle doch mit ihm in das hintere Zimmer kommen. So hatte er mir vor einem Jahr das Verbot des Lesesaals angezeigt, so zeigte er mir jetzt das gänzliche Verbot der Bibliothek, also die absoluteMattsetzung an. Aber es war anders als vor einem Jahr. Der Mann war in fassungsloser Erregung, ich mußte ihn beruhigen. Er streichelte mir immerfort die Hand, er konnte die Tränen nicht unterdrücken, er stammelte: Es kocht in mir … Wenn doch morgen etwas passierte … – Wieso morgen? – Es ist doch der Tag der Solidarität … Sie sammeln … Man könnte an sie heran … Aber nicht einfach töten – foltern, foltern, foltern … Sie sollen erst merken, was sie angerichtet haben … Ob ich meine Manuskripte nicht bei irgendeinem Konsulat in Verwahrung bringen könnte … Ob ich nicht heraus könnte … Ob ich ihm auch wirklich eine Zeile schreiben würde. – Vorher schon (von dem Verbot wußte ich noch nichts) hatte mir im Katalogsaal die Rothin sehr blaß die Hand gedrückt: ob ich denn nicht fort könnte, es gehe hier zu Ende, »auch mit uns – vor der Synagoge noch wurde die Markuskirche angezündet und die Zionskirche bedroht, wenn sie nicht den Namen ändere …« Sie sprach mit mir wie zu einem Sterbenden, sie nahm Abschied von mir wie für immer … Aber diese Teilnehmenden und Verzweifelten sind Vereinzelte, und auch sie haben Angst. Die Entwicklung der letzten Tage hat uns wenigstens die innere Unsicherheit genommen; es gibt nicht mehr zu wählen: Wir müssen fort. Aber ich habe in meinem Bericht vorgegriffen. Das wichtigste Ereignis war Georgs Kabel am 26. »Übernehme Bürgschaft Hilfe Brief unterwegs George.« Der Brief ist etwa am 10. Dezember zu erwarten und wird entscheidend sein. Aber bei der ständigen Zuspitzung der Situation will ich Montag (übermorgen) mit dem Telegramm bereits zum amerikanischen Konsulat.
6. Dezember, Dienstag
Das gesunde Rechtsempfinden des deutschen Menschen ist gestern in einer sofort wirksamen Verfügung des Polizeiministers Himmler zutage getreten: Entziehung der Autofahrerlaubnis bei allen Juden. Begründung: Wegen des Grünspanmordes seien die Juden »unzuverlässig«, dürften also nicht am Steuer sitzen, auch beleidige ihr Fahren die deutsche Verkehrsgemeinschaft, zumalsie anmaßlicherweise sogar die von deutschen Arbeiterfäusten gebauten Reichsautostraßen benutzt hätten. Dies Verbot trifft uns überaus hart. Es ist jetzt gerade drei Jahre her, daß ich fahren lernte, mein Führerschein datiert vom 26. 1. 36.
Von dem Verbot hatte ich schon vorgestern nachmittag durch Arons gehört, die es ihrerseits vom Schweizer Rundfunk als unmittelbar bevorstehend melden hörten. Ich war ein zweites Mal bei Arons, um Auskünfte über Emigrationsmöglichkeiten und über meine Vermögensabgabe zu holen (über die mich im Finanzamt niemand aufklären konnte). Es heißt: Am 15. 12. ohne Aufforderung die erste Rate zahlen, und niemand kann mir sagen, wie hoch mein Vermögen – purtroppo! – ist. Aron, mehrere Wochen mit 11 000 andern in Buchenwald festgehalten, krank zurückgekehrt, am Auswandern nach Palästina im letzten Augenblick verhindert, die Möbel sind schon unter Zollsiegel, und er kann die 1000 geforderten englischen Pfund nicht aufbringen, trotzdem er in deutschem Geld 175 000 M dafür bietet, ist maßlos überreizt und pessimistisch. Er sagt, mir würde Georgs Bürgschaft gar nichts nützen, Abertausende bewürben sich um die Einwanderung, seien vorgemerkt, ich könnte drei Jahre warten. Vor dem amerikanischen Konsulat lagerten in Berlin die Bewerber in Haufen täglich von sechs Uhr früh bis zum Abend, um nur vorgelassen zu werden. – Wir müssen nun Georgs Brief abwarten, aber unsere Stimmung ist noch weiter gesunken, und da beinahe, nein wirklich jeden Tag neue Judengesetze herauskommen, so sind
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