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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Handarbeiter in der Brauerei seiner reichen Verwandten). – Überall diese abscheuliche Hoffnungslosigkeit. Und ich glaube, bei den ausländischen Regierungen auch. Sie zittern alle, sie halten Hitler für unbesieglich – und deshalb ist er unbesieglich.
20. April, Führers Geburtstag
    Der Schöpfer Großdeutschlands 50 Jahre. Zwei Tage Fahnen, Prunk- und Sonderausgaben der Zeitungen, Vergottung sich überschlagend. In der »Berliner Illustrierten« ein halbseitiges Bild: »Die Hände des Führers«. Überall Thema: »Wir feiern in Frieden, um uns tobt die Welt.« – Sie scheint nun wirklich zu toben, nach Böhmen und Albanien. Aber bleibt es wieder beim »angehaltnen stillen Wüten«, bei der Flottenkonzentration vor Malta, bei der Botschaft Roosevelts, auf die Hitler am 28. im Krolltheaterreichstag antworten will? Und was bringt der Krieg uns, uns ? – Ein Tag so zermürbend wie der andere. Man ist vor lauter Gespanntheit stumpf. So wie gestern in der Festzeitung zwischen lauter Friedens-, Glücks-, Jubelhymnen, Verachtung der »armen Irren«, die an der allgemeinen »Führer, wir folgen dir!«- Stimmung zweifeln, ganz klein gedruckt die beinahe tägliche Notiz steht: »Zwei Landesverräter hingerichtet« (es sind meist zwei arme Teufel, Arbeiter, 20, 30 Jahre alt) – so geht mir kleingedruckt täglich durch den Kopf: Werden sie uns totschlagen? Aber wirklich nur kleingedruckt und nebenbei.
3. Mai, Mittwoch, gegen Abend
    Eben war Gusti Wieghardt bei uns; es ist ihr ganz unvermutet plötzlich gelungen, herauszukommen; sie fährt morgen nach London, wo sie ihren (fiktiven oder halbfiktiven) Salonküchenposten antritt. Man hat sie seltsamerweise nicht als Auswanderin behandelt, sondern als Witwe eines deutschen Professors, die auf ein Jahr ins Ausland geht und während dieser Zeit ihr Witwengehalt auf ein Sonderkonto weiter erhält – innerhalb Deutschlands darf sie darüber verfügen. Merkwürdige und eigentlich doch selbstverständliche psychologische Betrachtung: Bisher war Gusti leidenschaftlich an der politischen Entwicklung interessiert, fieberte nach dem endlichen Ausbruch des Krieges, war randvoll von Radioberichten etc. Heute war das alles wie fortgeblasen, sie hatte kein Radio mehr gehört, die Lage war ihr gleichgültig – mag aus Deutschland werden, was will; mag aus den hier Gefangenen werden, was will: das alles liegt hinter mir, ist mir gleichgültig, ich komme heraus! Sie sagte das natürlich nicht wörtlich so, aber doch ähnlich, und es sprang einem förmlich aus ihrem ganzen Verhalten entgegen. Ihr letztes Wort: Ich brauche mich nicht mehr zu ärgern, wenn ich an einem Kino vorbeigehe! In London darf ich hinein! (Sie geht übrigens nicht nach London, sondern in ein Nest bei Bristol zu irgendwelchen wohltätigen alten Damen, die schon verschiedene Emigrantinnen »engagiert« haben.) In den Jamben André Chéniers ist es so ergreifend, wie er im Gefängnis sagt: Wenn die Tür des Schlachthauses hinter unsereinem geschlossen ist, dann sind wir der übrigen Herde draußen gleichgültig. Hier liegt es umgekehrt: Wenn einer aus dem Schlachthaus heraus ist, dann fragt er nicht mehr nach denen drin. Zähne aufeinander und am Curriculum, Kapitel 3, weitergeschrieben. Morgen mag es wieder gehen, heute brach ich mitten im Wort ab.
7. Juni, Mittwoch abend
    Seit Wochen kann ich mich zu keiner Tagebuchnotiz entschließen. Immer in mein drittes Kapitel vergraben.
    Ich weiß nicht, ob die Zeit stillsteht oder fortschreitet. Manchmal, eigentlich täglich, scheint es mir, diesmal renne er in sein Verderben: Die polnische Sache entwickelt sich analog der tschechischen, die »Einkreisung« schreitet fort. Aber ich habe mich so oft getäuscht.
    Für wie perfide das Volk ihn hält: Allgemein heißt es, er werde Polen zwischen sich und Rußland aufteilen. Und wie wenig ihm daran liegt, die eigenen Unwahrheiten preiszugeben: Nie hatten wir Spanien (Franco) unterstützt, und jetzt wird seit Tagen in ganzen Zeitungsseiten die spanische Legion Condor gefeiert, mit ihren Geschützen und Flugzeugen. Und jeden Tag eine Rede und eine Parade oder Gefechtsübung zum Beweis unserer Unbesiegbarkeit und unseres »Friedenswillens«. Und bei der Straßenbahn werden Schaffnerinnen eingestellt. Und in den Fleischläden und bei den Gemüsehändlern größte Knappheit, weil alles fürs Heer aufgespeichert wird. – Aber das Volk glaubt wirklich an Frieden. Er wird Polen nehmen (oder aufteilen), die »Demokratien« werden nicht

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