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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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der Grünspan-Affäre das Inferno.
    Aber ich will nicht voreilig behaupten, daß wir bereits im letzten Höllenkreis angelangt sind. Sofern nicht die Ungewißheit das Schlimmste ist. Und sie ist es wohl nicht, denn in ihr ist immer noch Hoffnung. Auch haben wir ja noch Pension und Haus. Aber schon sind die Pensionen angetastet (keine »Sonderabmachungen« mehr, d. h. Streichung der zugesagten, nur mir nie gezahlten Vollgehälter), und schon habe ich dem Amt »zur Abwicklung der jüdischen Vermögen« alle Angaben über das Haus machen müssen. Die relative Ruhe der letzten Wochen darf nicht täuschen: In ein paar Monaten sind wir hier zu Ende oder die andern.
    In der letzten Zeit habe ich nun wirklich alles Menschenmögliche versucht, um hier herauszukommen: Das Verzeichnis meiner Schriften und meine SOS-Rufe sind überallhin gegangen: nach Lima, nach Jerusalem, nach Sidney, an die Quäkerin Livingstone. Das von Georgs Jüngstem überschickte Affidavit gab ich an das Berliner USA-Konsulat, stellte telefonisch fest, daß der von Georg genannte Mr. Geist noch im Amt und nach Neujahr erreichbar ist, und bat schriftlich um persönliche Audienz. Aber daß irgend etwas von alledem irgend etwas helfen wird, ist mehr als zweifelhaft.

1939
8. Januar, Sonntag
    Ich lese ungemein viel vor, teils Evas Augen, teils meiner Leere und Unruhe halber. Englisch treibe ich viel zuwenig. Vielleicht weil ich nicht recht daran glaube, hier fortzukommen (und immer noch auf das Wunder warte, wir möchten eines Tages ohne den Führer aufwachen).
    Etwas von der Lingua tertii imperii dringt in die neutralsten Übersetzungen: Stur und Einsatz z. B. sind gang und gäbe Wörter geworden.
10. Januar, Dienstag
    Marta schickte mir das »Jüdische Nachrichtenblatt«, und mir kamen oder es befestigten sich mir etliche längst vorhandene prinzipielle Gedanken.
    Es gibt keine deutsche oder westeuropäische Judenfrage. Wer sie anerkennt, übernimmt oder bestätigt nur die falsche These der NSDAP und stellt sich in ihren Dienst. Bis 1933 und mindestens ein volles Jahrhundert hindurch sind die deutschen Juden durchaus Deutsche gewesen und sonst gar nichts. Beweis: die Abertausende von »Halb-, Viertel-« etc. Juden und »Judenstämmlinge«, Beweis für gänzlich reibungsloses Leben und Mitarbeiten in allen Bezirken deutschen Lebens. Der immer vorhandene Antisemitismus ist gar kein Gegenbeweis . Denn die Fremdheit zwischen Juden und »Ariern«, die Reibung zwischen ihnen war nicht halb so groß wie etwa zwischen Protestanten und Katholiken, oder zwischen Arbeitgebern und -nehmern, oder zwischen Ostpreußen etwa und Südbayern, oder Rheinländernund Berlinern. Die deutschen Juden waren ein Teil des deutschen Volkes, wie die französischen Juden ein Teil des französischen Volkes waren etc. Sie füllten ihren Platz innerhalb des deutschen Lebens aus, dem Ganzen keineswegs zur Last. Ihr Platz war zum allerkleinsten Teil der des Arbeiters und nun gar Landarbeiters. Sie waren und bleiben (auch wenn sie es jetzt nicht mehr bleiben wollen) Deutsche, in der Mehrzahl deutsche Intellektuelle und Gebildete. Will man sie jetzt massenweise expatriieren und in landwirtschaftliche Berufe verpflanzen, so muß das scheitern und überall Unruhe hervorrufen. Denn überall werden sie Deutsche und Intellektuelle bleiben. Es gibt nur eine Lösung der deutschen oder westeuropäischen Judenfrage: die Mattsetzung ihrer Erfinder. – Zu trennen hiervon ist die Ostjudensache, die ich aber auch wieder nicht als eine spezifische Judenfrage ansehe. Denn seit langem strömt aus dem Osten, was entweder zu arm oder zu kulturgierig oder beides ist, nach westlichen Ländern und bildet dort eine Unterschicht, aus der Kräfte nach oben strömen. Keinem Volk zum Schaden, denn »völkisch« im Sinn der Reinblütigkeit ist ein zoologischer Begriff und ein Begriff, dem längst keine Realität mehr entspricht, jedenfalls noch weniger Realität als der alten strikten Unterscheidung zwischen den Sphären des Mannes und »Weibes«. – Die reine oder die religiöse zionistische Sache ist eine Sektiererangelegenheit, der keine Bedeutung für die Allgemeinheit zukommt, etwas sehr Privates und Rückständiges wie alle Sektiererangelegenheiten, eine Art Freiluftmuseum, wie das altholländische Dorf bei Amsterdam. – Es erscheint mir geradezu als Wahnsinn, wenn jetzt in Rhodesia oder sonstwo spezifische Judenstaaten aufgemacht werden sollen. Man läßt sich von den Nazis um Jahrtausende zurückwerfen. Die

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