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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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einzugreifen wagen.
14. August, Montag
    Seit Wochen immer wachsend und immer gleichbleibend dieselbe Spannung. Vox populi: Er greift im September an, teilt Polen mit Rußland, England-Frankreich ohnmächtig. Natscheff und etliche andere: Er wagt keinen Angriff, hält Frieden und hält sich noch jahrelang. Jüdische Meinung: blutiger Pogrom am ersten Kriegstage. Was von diesen drei Dingen auch eintritt: Für uns steht es verzweifelt.
    Wir leben, lesen, arbeiten weiter, aber immer bedrückter.
29. August, Dienstag
    Es ist mir ungeheuer schwer geworden, den Abschnitt Paris 1903 zu beenden, diese letzten Tage rissen und reißen zu sehr an den Nerven. Die offene Mobilisierung ohne Ankündigung der Mobilisation (Menschen, Autos, Pferde), der Russenpakt und die ungeheure Umkehr, Wirrnis, Unabsehbarkeit der Lage, der Kräfteverhältnisse nach diesem Umschwung. (Wo steht? wie wirkt? wie ist Volksstimmung? etc. etc. Endlose, quälerische Gespräche.) Unabsehbarkeit der Gefahr für alle Juden hier. Vom Freitag bis Montag immerfort gesteigerte Spannung. Leute massenhaft in der Nacht zum Militärdienst geholt, Pferde von der Markthalle weg. Am Sonntag vormittag kam Moral unvermutet: Er wolle in Berlin bei einem arischen Freund »untertauchen«, er rechne mit Kriegsausbruch und für diesen Fall mit Abgeschossenwerden, vielleicht nicht in wildem Pogrom, sondern regulär zusammengetrieben und an eine Kasernenwand gestellt. Dann am Nachmittag wurden Lebensmittelkarten verteilt; damit war das Fortfahren und Untertauchen verhindert. Ich fuhr abends zum Bahnhof, das Publikum sah recht bedrückt aus (Eva erzählte nachher, auch hier habe alles, was vom Luftbad heimströmte, leise gesprochen, nicht gelacht und gealbert wie sonst). Man umdrängte den Anschlag, der die Verminderung des Zugverkehrs anzeigte. Die zehntägige Postsperre für alle Truppen »außerhalb ihrer Standorte« war schon am Sonnabend erschienen.
    Von Stunde zu Stunde scheinen die Aussichten zwischen Krieg und Frieden, die Aussichten und Gruppierungen des etwaigen Krieges zu schwanken. Jeder rätselt, wartet, schon geht die allzu große Spannung wieder in Stumpfheit über. Im Augenblick scheint mir das Wahrscheinlichste, daß Hitler noch einmal das Spiel gewinnt, durch bloßen Druck ohne Schlacht. Aber wie lange kann er dann als Bundesgenosse der Bolschewisten … usw. usw.?
3. September, Sonntag vormittag
    Die Nervenfolter immer unerträglicher. Am Freitag morgen dauernde Verdunkelung befohlen. Wir sitzen eng im Keller, die furchtbare nasse Schwüle, das ewige Schwitzen und Frösteln, der Schimmelgeruch, die Lebensmittelknappheit macht alles noch qualvoller. (Ich suche Butter und Fleisch für Eva und Muschel zu bewahren, mir mit dem noch freien Brot und Fisch nach Möglichkeit durchzuhelfen.) Dies alles wäre an sich Bagatelle, aberes ist nur das Nebenbei. Was wird? Von Stunde zu Stunde sagen wir uns, jetzt muß es sich entscheiden, ob Hitler allmächtig, ob seine Herrschaft eine unabsehbar dauernde ist, oder ob sie jetzt, jetzt fällt.
    Am Freitagmorgen, 1. 9., kam der junge Schlächtergeselle und berichtete: Rundfunk erkläre, wir hielten bereits Danzig und Korridor besetzt, der Krieg mit Polen sei im Gang, England und Frankreich blieben neutral. Ich sagte zu Eva, dann sei für uns eine Morphiumspritze oder etwas Entsprechendes das Beste, unser Leben sei zu Ende. Dann wieder sagten wir uns beide, so könnten die Dinge unmöglich liegen, der Junge habe schon oft tolles Zeug berichtet (er ist ein Musterbeispiel für die Art, wie das Volk Berichte auffaßt). Eine Weile später hörte man Hitlers gehetzte Stimme, dann das übliche Gebrüll, verstand aber nichts. Wir sagten uns, es müßten schon Fahnen erscheinen, wenn der Bericht auch nur halbwegs stimmte. Dann unten die Depesche vom Kriegsbeginn. Ich fragte den und jenen, ob die englische Neutralität schon erklärt sei. Nur eine intelligente Verkäuferin im Zigarrenladen am Chemnitzer Platz sagte: »Nein – das wäre ja auch ein Witz!« Beim Bäcker, bei Vogel hieß es, »so gut als erklärt, in wenigen Tagen alles erledigt!« Ein junger Mensch vor dem Zeitungsaushang: »Die Engländer sind viel zu feige, die tun nichts!«, und so in Variationen die allgemeine Stimmung, vox populi (Buttermann, Journalmann, Kassenbote der Gasgesellschaft etc. etc.). Nachmittags die Rede des Führers gelesen: Sie schien mir durchaus pessimistisch, nach außen und nach innen . Auch alle Bestimmungen deuteten und deuten auf mehr als eine

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