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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Unterbrechung.
13. Februar, Freitag abend
    Um sechs Uhr kam ein Bote der Jüdischen Gemeinde, ich hätte morgen früh, acht Uhr, in Räcknitz zum Schneeschippen anzutreten. Das ist genau die Arbeit, bei der mein Herz nach fünf Minuten streikt. Sie soll »bis zum frühen Nachmittag« dauern. Es fehlt mir auch an gutbesohlten Stiefeln. Zu irgendeinem Einspruch oder einem Versuch, Stiefel zu beschaffen, war es zu spät. Ich muß die Sache hinnehmen. Mehr als krepieren kann ich nicht.
15. Februar, Sonntag vormittag
    Der erste Schneeschippertag gestern, 14. 2., von acht bis zwei, aber die kommende Woche soll es von acht oder halb neun bis fünf Uhr gehen, zuzüglich je einer Stunde An- und Rückmarsch. Gestern nach sieben bei Dämmerung, fast Dunkelheit, mit Dr. Friedheim fort. Unkenntlichkeit verschneiter Straßen. An der alten Ziegelei vorbei nach Zschertnitz, dann geradeaus die Moreau bis zum »Elysium«, einem großen Gasthaus genau am Anfang der Langemarck-, già Bergstraße in Räcknitz. Dr. Friedheim fiel zweimal unterwegs, einmal sehr schwer, wies nachher ein Attest von Rostoski vor: Galle, Leber, Bruch, Zucker … ging nach Hause. In der Einfahrt des Hauses sammelte sich eine jämmerliche Gruppe. Ein Bruch ohne Bruchband, ein Lahmer, ein Verwachsener … Siebzehn »ältere« Männer hatten kommen sollen, zwei waren ausgeblieben, drei wurden fortgeschickt, von den zwölf verbleibenden waren mehrere über siebzig, ich mit sechzig buchstäblich der jüngste.
    Es wehte furchtbar, bisweilen hatte man Schneesturm. Die Schmerzen hatten rasch aufgehört, ich hielt merkwürdig gut durch. Es wurde in sehr mäßigem Tempo gearbeitet, man stand viel umanand, plauderte – dennoch war es sehr anstrengend. Und ob ich morgen bis fünf Uhr aushalten werde, ist zweifelhaft. Umanandstehen gehört fraglos zu all solchen militärähnlichen Kollektivarbeiten, Umanandstehen, Stumpfsinn, Langeweile und Schleichen der Stunden. Hier oben hatte ein gemütlicher grauhaariger Vorarbeiter in Zivil die Führung. Er sagte »Herr« (!) und zu mir: »Sie müssen sich nicht überanstrengen, das verlangt der Staat nicht.«
    »Freitag, der dreizehnte« – soll ich abergläubisch sein? Nicht nur der Schipperbefehl traf mich, sondern unter dem Schock vergaß ich die Verdunklung meines Zimmers. Fast genau ein Jahr, nachdem mir das zuerst zugestoßen. Erst gegen neun Uhr abends fiel mir das unvermittelt ein. Wir knipsten sofort das Licht aus und verdunkelten. Da sich niemand gemeldet hat, ist die Sache glimpflich abgegangen. Sie hätte mich mindestens viele WochenGefängnis gekostet, wenn nicht gar KZ. So ist der dreizehnte mir doch noch gnädig gewesen. –
    Gestern mit Frau Ida Kreidl ihre neue Mieterin bei uns, Frau Pick, Dame (wirkliche Dame) von 76, ehedem millionenschwer (irgendeine sehr große Malzfabrik), jetzt verarmt, Familie im Ausland. Ungemein rüstig, lebensfroh (stark österreichisch), dabei ein ebenso herzliches wie würdiges Betragen. Mich streichelte sie: »Sie könnten mein Sohn sein, zu meiner Zeit heirateten die Mädels mit 16 Jahren.«
1. März, Sonntag
    Schwere Müdigkeit, Muskelschmerzen in den Waden, wunde Füße, die Hand unfähig, die Feder zu führen. Zur geistigen Arbeit unfähig. Dabei wird das Schippen sehr sachte betrieben. Aber von halb acht bis halb sechs immerfort im Freien, in physischer Anstrengung. Zuwenig Schlaf. Wenn ich am Sonntag mich ausführlich abseife, ein wenig Eva spielen höre, eine kümmerliche Tagebuchnotiz mache, ein paar Seiten vorlese (Meißinger), so ist das sehr viel. Ich kämpfe immer mit Schlafbedürfnis. –
    Vor etwa vierzehn Tagen hieß es: der Zigarettenfabrikant Müller, 72 Jahre alt, mit Estreicher zusammen ins KZ. Vor drei Tagen: Er ist der Gemeinde als verstorben gemeldet. Es liegt jetzt so, daß KZ offenbar identisch mit Todesurteil ist. Der Tod der Überführten wird nach wenigen Tagen gemeldet.
    Anfrage der Devisenstelle »zwecks Neufestsetzung Ihres monatlichen Freibetrages«. Es soll sich um sehr starke Abstriche handeln. Ständige Angst vor Haussuchung. Gestapo soll gräßlich hausen.
    Im Osten Tag für Tag Angriffe der Russen.
6. März, Freitag
    Gestern, nach zwanzig Tagen Dienst (wovon einer für mich ausfiel), ist die Gruppe entlassen worden. Abrechnung im dritten »Lohnbeutel«: 121 Arbeitsstunden je 70 Pf = 84,70, wovon 12,07 Lohnsteuer, bleiben 72,63 – ich glaube aber, davon gehen noch15 Prozent Juden-»Sozialausgleich« ab. Schon hat mich die Devisenstelle angefragt,

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