Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
Vom Netzwerk:
soll auch eine Frau mit drei kleinen Kindern sein, das jüngste Säugling, zwei Monate alt. Auch aus Berlin ging gestern ein Transport ab. Namenloses Elend, durch den anhaltenden sehr schweren Frost (zwischen 15 und 20 Grad) gesteigert. Unendliche Willkür und Unsicherheit. Kätchen Sara glaubte einen Augenblick unter den zwanzig zu sein und kippte fast um. Auch für meine Person fühle ich mich nicht mehr sicher. –
20. Januar, abends
    Gestern bis Mitternacht bei Kreidls unten. Eva half Gurte für Paul Kreidl nähen, an denen er seinen Koffer auf dem Rücken schleppt. Dann wurde ein Bettsack gestopft, den man aufgibt (und nicht immer wiedersehen soll). Ihn karrte Paul Kreidl heute auf einem Handwägelchen zum vorgeschriebenen Spediteur.
21. Januar, Mittwoch vormittag
    Vor dem Weggehen des Deportierten versiegelt Gestapo seine ganze Hinterlassenschaft. Alles verfällt. Paul Kreidl brachte mir gestern abend ein Paar Schuhe, die mir genau passen und bei dem furchtbaren Zustand der meinigen höchst willkommen sind. Auch ein bißchen Tabak, den Eva mit Brombeertee mischt und in Zigaretten stopft. Ich bin schon seit vielen Wochen bei purem Brombeertee. – Heute vormittag Art Kondolenzbesuch bei der Mutter. – Der Transport umfaßt jetzt 240 Personen, es sollen so Alte, Schwache und Kranke darunter sein, daß kaum alle lebend ankommen. (Immerfort schwere Kälte.)
6. Februar, Freitag abend
    Bei der heutigen Neuausgabe der Seifenkarte (immer für vier Monate) fällt zum erstenmal für Juden die Rasierseife fort. Herrscht solche Knappheit – will man den mittelalterlichen Judenbart zwangsweise wiedereinführen? Ich habe noch ein bißchen gehamsterte Reserve. Hoffentlich entgeht sie der Haussuchung. Hoffentlich macht man sich nicht durch Rasiertheit verdächtig.
    Notierte ich, daß Lissy Meyerhof in ihrem letzten Berliner Brief schrieb, es fehle in den Ghettospitälern an Typhus-Impfstoff?
8. Februar, Sonntag
    Immer das gleiche Auf und Ab. Die Angst, meine Schreiberei könnte mich ins Konzentrationslager bringen. Das Gefühl der Pflicht zu schreiben, es ist meine Lebensaufgabe, mein Beruf. Das Gefühl der Vanitas vanitatum, des Unwertes meiner Schreiberei. Zum Schluß schreibe ich doch weiter, am Tagebuch, am Curriculum. –
    Seit gestern besonders deprimiert. Eva erschöpft vom Vormittagsweg in Frost, Schnee und Glätte; so war ich allein bei Neumanns. Die ganze Zeit wurde von der namenlosen Haussuchung bei ihnen (wie bei andern) gesprochen. »Rollkommando« von acht Mann. »Da setzt euch auf die Bundeslade« (eine Truhe), gemeinste Beschimpfungen, Stöße, Schläge, Frau Neumann erhielt fünf Ohrfeigen. Alles durchwühlt, wahlloser Raub: Lichte, Seife, eine Heizsonne, ein Koffer, Bücher, ein halbes Pfund Margarine (legitim auf Marken gekauft), Schreibpapier, alle Art Tabak, Schirm, die Militärorden (»Du kannst sie ja doch nicht mehr brauchen«). – »Wo läßt du waschen?« – »Zu Haus.« – »Daß du dich nicht unterstehst, deine Wäsche außerhalb waschen zu lassen!« – »Warum werdet ihr alle so alt? – Hängt euch doch auf, macht doch den Gashahn auf.« Leider auch Briefe, Adressen, Schriftstücke überhaupt mitgenommen. – Zum Schluß unterschreibt man, alles freiwillig dem Deutschen Roten Kreuz zurVerfügung gestellt zu haben. – Zur Verhaftung genügt, daß Beziehung zu einem Arier festgestellt wird.
9. Februar, Montag
    Immer neue Nachrichten über Haussuchungen, über Diebstahl jeder Art, Mißhandlungen … Ich komme aus der Sorge um meine Manuskripte nicht mehr heraus. Alles kann ich nicht fortschaffen. Gestern brachte Kätchen von einem Besuch bei Verwandten diese Nachricht: ein quidam Stern, etwa sechzig Jahre, vor etlichen Wochen verhaftet, weil bei Haussuchung ein Hirtenbrief gefunden. PPD – dann KZ – jetzt Urne zurückgekommen. – Es fällt mir schwer, die Sammlung zum Curriculum aufzutreiben. Die meiste Zeit des Tages freilich Küchenarbeit. Neuerdings auch Vorlesen am frühen Morgen. Ich mag es nicht, wenn Eva wach liegt, ihren Gedanken überlassen.
    Kätchen gab mir die Schriftstücke zu lesen, die den zum Transport Bestimmten ausgeliefert werden. Ihr Vermögen ist beschlagnahmt, sie haben auf Vordrucken Aufstellung davon zu machen. Diese Vordrucke gehen bis ins jämmerlichste Einzelne: »Krawatten … Hemden … Schlafanzüge … Blusen …«
10. Februar
    Unter dem Druck drohender Haussuchung fährt Eva wieder nach P. – Manuskript Curriculum fort. – Wahrscheinlich völlige

Weitere Kostenlose Bücher