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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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wieviel ich »monatlich« im Arbeitseinsatz verdiene. Den Lohn mußte ich jedesmal meinem Sicherungskonto übergeben, ich durfte ihn nicht etwa auf den Freigrenzenbetrag verrechnen.
    Das Schlimmste dieser letzten Zeit ist die ständige Erwartung der Haussuchung. Immer wieder wird von den Rollkommandos Grausiges erzählt. –
    Heute kam das Verbot der Straßenbahnbenutzung »mit Rücksicht auf das wiederholte undisziplinierte Verhalten von Juden auf der Straßenbahn«. Voran ging in den letzten Monaten: Beschränkung auf den Vorderperron, Verbot der Hechtwagen, Verbot der Autobusse. Wenn man hört, was Kätchen Sara von Fahreräußerungen erzählt, so scheint hinter dem Verbot der Wille zur Isolierung, die Angst zu stehen. Aber die Fahrten zur Arbeit und von der Arbeit nach Hause sind erlaubt. Gestern Rundschreiben »zur strengsten Beachtung«: keinen »unnötigen Briefwechsel«, »Ankauf und Vorratshaltung von Medikamenten … auf das äußerste einzuschränken«, »die Benutzung von elektrischen Apparaten ist ebenfalls auf das äußerste einzuschränken«, Verbot, illustrierte und Wochenzeitschriften zu kaufen oder zu abonnieren. Verbot, Lebensmittelmarken ohne J zu verwenden.
16. März, Montag
    Fräulein Ludwig schickte für Muschel einen Fischkopf – sie hatte den Fisch als Arierin von Freunden bekommen. Fisch ist ungemein selten und dem jüdischen Haushalt ganz verboten. Anweisung: den Kopf sofort auskochen, die Gräten verbrennen! Die Angst vor der Gestapo. 90 Prozent aller Gespräche der Juden kreisen um die Haussuchungen. Jeder weiß von neuen Grausamkeiten und Räubereien. – Der neulich verhaftete Friedmann – man soll ein größeres Quantum Wein und Obstkonserven bei ihm gefunden haben – ist jetzt im KZ.
    Als furchtbarstes KZ hörte ich in diesen Tagen Auschwitz (oder so ähnlich) bei Königshütte in Oberschlesien nennen. Bergwerksarbeit,Tod nach wenigen Tagen. Hier Kornblum, der Vater der Frau Seliksohn, ebenso – mir unbekannt – Stern und Müller gestorben, bei denen man den verbotenen Hirtenbrief gefunden hatte. – Nicht unbedingt und sofort tödlich, aber »schlimmer als Zuchthaus« soll Buchenwald bei Weimar sein. Hierhin kam Estreicher. »Zwölf Stunden Arbeit unter «, sagt Seliksohn. –
    Ein allgemein jüdischer Trost sind die Todesanzeigen mit dem Hakenkreuz. Jeder zählt: Wie viele? Jeder zählt, wie viele noch »für den Führer« fallen.
    Die Eßnot wird immer qualvoller. Ich benasche das besser versehene Kätchen Sara (sie ißt weniger und erhält vieles von ihrer Mutter), wo etwas offen und angebrochen herumsteht. Ein Löffel Honig, ein Löffel Marmelade, ein Stückchen Zucker oder Brot. Gestern stand ein angeschnittenes dickes Würstchen auf dem Tisch. Ich säbelte einen winzigen Brocken herunter. Bald danach hörte ich, wie Eva den Muschel aus der Küche vertrieb: Auch er hatte von dem Würstchen stehlen wollen. –
    Vor wenigen Tagen in der Zeitung: Die siebentausend (7000) Dresdener Gärtnereien stellen die Hälfte ihrer Betriebsfläche auf Gemüsezucht um: stellt ihnen Blumentöpfe für Anzucht zur Verfügung und kauft weniger Blumen! Jetzt ist ein Verbot des Blumenkaufes für Juden herausgekommen. Kein Tag ohne eine neue Bestimmung gegen Juden.
    Wir sind in großer Brot-, Kartoffel- und Kohlenbedrängnis.
20. März, Freitag abend
    Heute in der Zeitung die Verkürzung der Brot-, Fleisch- und Fettrationen (½ Pfund Brot, 100 Gramm Fleisch wöchentlich, 250 Gramm Fett in vier Wochen). Das im Moment des größten Mangels an Gemüse und Kartoffeln! Auch beginnt es eben, nach ein paar milden Tagen, wieder zu schneien. Wir wissen nicht, ob wir uns freuen sollen oder verzweifeln. Wir sind in großer Not: Brot für die nächsten zehn Tage etwa ungedeckt, Kartoffeln noch etwa für vier Mahlzeiten, Kohlen für eine knappe Woche. – Aber der Eindruck auf das Volk muß desaströs sein.
    Ich habe nicht mehr die rechte Ruhe zum Lesen. Ich möchte so gern im Curriculum weiter. Aber ich habe alle Unterlagen aus [den] Händen geben müssen. Und es ist auch notwendig, daß ich ein bißchen unterbaue. Auch rechne ich jeden Tag mit neuem »Arbeitseinsatz«.
22. März, Sonntag
    LTI . Notierte ich schon einmal unter Mechanistischem: Ankurbeln ?
    Was trägt Eva in der Handtasche bei sich, aus Furcht vor der Haussuchung? Cebion, Rasierseife, Zigarettentabak, Süßstoff.
    Eva war gestern aus größter Not in Pirna betteln. Sie kam schwer schleppend heim: einen Korb Kartoffeln, etwa zwei Pfund Brot in

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