Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Angriff in den Zeitungen geschildert worden und da Ludwig Voß durchaus patriotisch schreibt. Aber an eine Jüdin. »Ihr freut euch darüber! Ihr hetzt damit!« Auf Kätchens Tisch lag das Kuvert neben einer Postkarte ihrer Mutter, die ihr Speiseöl von ihrer Karte versprach (auch das ein Verbrechen). Der Brief wurde in ein Fauteuil geknautscht (»versteckt«!) gefunden. Alles durchstöbert, Kätchen mußte den Teppich aufrollen, erhielt Fußtritte dabei, jammerte, wurde bedroht, mußte die Adresse des Schwagers aufschreiben. In ihren Zimmern entstand das gleiche Chaos wie beim ersten Überfall. Die Reihe der unflätigen Schimpfworte war eigentlich eng. Immer wieder »Schwein«, »Judenschwein«, »Judenhure«, »Säue«, »Miststück« – mehr fällt ihnen nicht ein. Ich war auf einen Stuhl in der Diele gezwungen worden, mußte alles mitansehen und -hören und zitterte immer um mein Tagebuch. Ich mußte beim Abhängen der schweren Gemälde helfen. Bisher war mir wenig Übles geschehen. »Warum hat deine Alte soviel Wollzeug und Stoff herumliegen? Weiß sie nicht, daß Spinnstoffsammlung ist?« – »Doch, sie ist gerade beim Heraussuchen für diese Sammlung.« Ich glaubte schon, aus der Gefahr zu sein, als »Der Mythus des 20. Jahrhunderts« und mein Notizblatt daneben zur Katastrophe führten. Das vorige Mal, bei einem offenbar etwas höheren Beamten, hatten Buch und Notizen kaum Widerspruch erregt. Diesmal wurde mir diese Lektüre als furchtbares Verbrechen angerechnet. Das Buch wurde mir auf den Schädel gehauen, ich wurde geohrfeigt, man drückte mir einen lächerlichen StrohhutKätchens auf: »Schön siehst du aus!« Als ich auf Befragen angab, bis 1935 im Amt gewesen zu sein, wurde ich von zwei mir schon bekannten Kerlen zwischen die Augen gespuckt. Indem erschien Eva vom Einkauf. Die Tasche wurde ihr sofort abgenommen, man schimpfte auch auf sie wegen des Buches ein. Ich wollte ihr zu Hilfe kommen, wurde geohrfeigt und mit Fußtritten in die Küche gestoßen. (Ohrfeigen und Tritte waren auch diesmal erträglich – aber mein armes Herz und die Angst um die weitere Entwicklung!) Eva verteidigte sich sehr ruhig. »Das Buch habe ich entliehen, mich interessiert Ihre Methode, ich schreibe darüber an meinen Vetter, den Oberbürgermeister von Potsdam, Arno Rauscher.« – Einer der Kerle brüllte: »Damit wollen Sie uns drohen, das werden Sie büßen!« (Aus »du« war »Sie« geworden, und sie wurde diesmal nicht geschlagen und »nur einmal ein klein bißchen« angespuckt.) Sie sagte sehr ruhig, von Drohung sei keine Rede, sie wisse gar nicht, ob ihr Vetter heute noch im Amt sei, sie habe ihres Ahnenpasses wegen sich vor einiger Zeit an ihn wenden müssen, sie habe ihn jetzt genannt, um ihr Interesse für ein Buch des dritten Reiches zu motivieren. – »Wenn ich eine Verwandte hätte, die sich mit einem Juden abgibt, die würde ich aufs tiefste verachten, Sie artvergessenes Weib!« So ging das noch ein Weilchen weiter, aber es erfolgten gegen Eva keine Tätlichkeiten. Nur wurde unter heftigsten Drohungen darauf gedrungen, das Buch abzugeben und uns nicht zu unterstehen, weiter eine Leihbibliothek zu benutzen. (Ich sagte Eva nachher, ihre Verteidigung sei ein sehr gewagter Schritt gewesen und könne üble Folgen haben. Sie erwiderte: »Die Bestien sind feige.« – Sie hat vor wenigen Jahren Namen und Bild dieses Vetters, mit dem sie als Mädchen viel verkehrte, im »Illustrierten Beobachter« gefunden. Sie stellte heute im Potsdamer Adreßkalender fest, daß er inzwischen »i. R.« geworden, aber in Potsdam, Schloß Sanssouci, wohnt. Vielleicht wirklich eine allerletzte Hilfe.) Die Bilanz dieser gestrigen Haussuchung für uns: Es fehlte alles Brot, ein unangerissener Zweipfünder, ein Pack Streichhölzer, alle Seife im Badezimmer, fast aller Zucker, ein Fünfmarkscheinaus der Brieftasche. Jämmerlich! Aber die eigentliche irreparable Schädigung besteht doch im Fortfall der Leihbibliothek . Nun ist meine Studienmöglichkeit noch mehr eingeschränkt als bisher. Ich werde in allen jüdischen Familien und bei Annemarie herumbitten und -betteln; aber fraglos bin ich sozusagen noch matter gesetzt als zuvor. Es kommt die Angst, die immer stärkere Angst hinzu, Manuskripte im Hause zu haben. Das 18 ième , das Curriculum, die LTI – alles stockt. Ich kann nicht mehr arbeiten, nur noch mich beschäftigen. Und die wieder gesteigerte Unsicherheit. – Die eigentliche Katastrophe aber hatte sich gar nicht bei Kätchen
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