Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
sehr bedrückend. Die Tochter mit hysterischem Schluchzen schlimmer als die Mutter, die mich zuletzt umarmte und küßte. Gepäck und Wäschestücke im Zimmer, ein heimliches Päckchen Süßstoff wurde in ein rosa Korsett genäht, zwischendurch schrien sich Mutter und Tochter in größter Erregung an. – Glaser, der die Leute lange kennt, kam herüber; es war eine Erlösung, als wir mit ihm zusammen fortgingen.
Abends zu Haus gerieten wir dann wieder in die Evakuierungssphäre.Aber Ida Kreidl war sehr gefaßt, beinahe freudig erregt: Sie trifft in Theresienstadt eine Schwester aus Prag, sie reist zusammen mit einer Schwägerin. Ihre gute Stimmung (natürlich bei hochgradiger Erregtheit) hielt auch heute vormittag an. Seit dem frühen Morgen kam sie häufig zu uns herauf. Wir »erbten« noch vielerlei: Kartoffeln, Mehl, Handwerkszeug etc. Um elf erschien dann ein Kommissar der Gestapo; ich öffnete dem Mann, er redete mich mit »Sie« an, also schon beinahe ein Humaner. Nachher sah ich dann doch Tränen bei Frau Kreidl. »Wie ein Hund auf der Straße bin ich jetzt«, sagte sie. Über das Schlüsselloch der Parterrewohnung zieht sich eine Reihe von vier roten Stempelmarken der Gestapo: Alles darin gehört nun dem Staat, die Besitzerin ist absolut nackt und bloß. (D. h. sie hat fünf Kleider übereinander, nach eigener Aussage ebenso sechs Hosen und sechs Paar Strümpfe. Und dann besitzt sie noch, was in einen Handkoffer und in eine Handtasche hineinging.) Als der Kommissar klingelte – Sturm an allen Hausglocken –, hatte sie, in ihrer Tätigkeit unterbrochen, rechts einen braunen, links einen grauen Strumpf am Bein.) Sie war dann noch eine Stunde bei ihrer Schwägerin oben. Beim Abschied von uns blieb sie tapfer – wieder wurde ich umarmt und geküßt. Um zwei Uhr müssen die fünfzig Leute im Gemeindehaus sein. Übernachtung auf Liegestühlen, Abtransport morgen früh – nächste Gruppe vierzehn Tage später.
Neue Verordnungen (– die wievielten?): a) »Juden ist der Kauf von Speiseeis verboten.« (Im allgemeinen sehe ich nur leckende Kinderhäufchen bei Kuchen-Kramer. Aber neulich sagte mir die abgehetzte Frau Marckwald: jetzt werde sie ein Eis beim Kuchen-Kramer kaufen. Das darf sie nun nicht mehr.) b) Alle entbehrlichen Schlüssel, »insbesondere Kofferschlüssel«, sind sofort abzugeben.
2. September, Mittwoch abends halb zwölf. Auf abgeräumtem Schreibtisch
Das Chaos des Umzugs. Die Arbeitslast lag zu neunundneunzig Hundertsteln auf Eva, die Unrast mußte ich teilen.
Was an mir liegt, so soll das Judenhaus Caspar-David-Friedrich-Straße 15 b mit seinen vielen Opfern berühmt werden.
Das zweite Judenhaus: Dresden-Blasewitz, Lothringer Weg 2 3. September 42
4. September, Freitag gegen Abend
Schwere, gediegene Eleganz der grands bourgeois, in unserm Verfall verfallende Eleganz. Ein Riesenkasten in unübersichtlicher und unruhiger Form: Keine Linie ist friedlich, kein Teil ohne besonderen Schmuck, nichts ist einfach. Auch innen Üppigkeit und Unruhe. Eine riesige viereckige Mittelhalle bis zum Dach, zweigeschossig. Das Untergeschoß überhoch, das zweite niedriger, und noch niedriger wirkend durch die schwere dunkelbraune Holzdecke mit den stark hervortretenden Rippenbalken. Eine breite Galerie mit schwerem, schnitzwerkdurchbrochenem Holzgeländer umzieht das erste Stockwerk. Von unten bis oben drängen sich in jedem freien Wandraum Gemälde in schweren Rahmen, meist Kopien berühmter Renaissancewerke.
Der Besitzername wird mit Ehrfurcht genannt: die Jacobysche Villa. Der Mann war Hofjuwelier, Firma Elimaier am Neumarkt, sehr reich, hat alles nach seinem Geschmack und Wunsch ausführen lassen. Schwester Ziegler hat unten das ehemalige Rauchzimmer; da – im Rauchzimmer! – ist die Decke mit Porträts besät, lauter Kopien von Klassikern, in jedem Dekkenfeld ein berühmter Kopf. Die Witwe Jacoby, Achtzigerin, am Stock, gebückt, aber geistig frisch, gehört zu den Evakuierten des nächsten Montags. Schon steht ihr Koffer mit großer Aufschrift »Jenny Sara Jacoby« in der Diele. Das ist alles, was ihr von der Prunkvilla bleibt.
7. September, Montag morgen
So werde ich wohl Marckwald wohl zum letztenmal gesehen: Noch schmaler und grauer im Gesicht als vorher, sitzt er im Türrahmen zwischen dem Schlafzimmer mit der einen zurückgeschlagenen Hälfte des Ehebettes, der große Mitteltisch des Wohnzimmers ist mit Porzellan bestellt, Leute, unter denen sich als Helfer der Vorsteher Hirschel befindet,
Weitere Kostenlose Bücher