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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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tragen große Möbelstücke heran und heraus, eine wechselnde Menschengruppe hält sich bei Marckwalds Sessel auf, spricht mit ihm, plaudert aber auch unter sich, zwei, drei sind am offenen Bücherschrank und wählen sich »Andenken« – »Nehmen Sie nur, warum sollen die es haben?« Schon als ich die Treppe heraufkam, erwischte ich das Ehepaar Hirschel. »Es geht Marckwald furchtbar schlecht – wie werden sie ihn transportieren? Dort kommt er ja wohl gleich ins Krankenhaus, und da wird es nicht lange dauern.« Aber Marckwald saß ganz gefaßt in seinem Stuhl, die letzten Tage hätte er gelegen, und jeder sprach so zu ihm, als ginge er nur für kurze Zeit fort. Im ganzen war auch wohl jeder der Anwesenden teils abgestumpft, teils mit dem eigenen Schicksal beschäftigt.
8. September, Dienstag vormittag
    In dem verwunschenen Haus tauchen noch immer neue Gestalten und Parteien auf. Mit allen freundliche Berührung, mit niemandem bisher Intimität, auch nicht mit der Frau Ziegler, die ja selten anwesend, übrigens sehr hilfreich und gar nicht zudringlich oder störend.
    Heute früh kam Frau Ziegler von der Gemeinde, wo sie die Transportherde nachtüber betreut hatte. Sie sagte, das schlimmste sei der Moment, wo über den im Lastwagen Verstauten die Plane von allen vier Seiten herabgelassen und geschlossen würde. »Wie das Vieh im Dunkeln.« Sie erzählte, wie eine alte Dame einen Brief ausgeliefert erhielt, als ein Gestapokommissar hinzukam. Der Brief war harmlos. Von einer Tochter. Aber das inliegende Bild der Enkelin wurde zerrissen: »Ihr dürft kein Bild mitnehmen.« Und ein Satz lautete: »Vielleicht, Mütterchen,sehn wir uns doch noch einmal, es geschehen ja Wunder.« Der Kommissar, der laut las, kommentierte: »Für euch geschehen keine Wunder, bildet euch nichts ein.«
16. September, Mittwoch gegen Abend
    Beim Haarschnitt gestern drang Seliksohn in mich, zwei hinterlassene Anzüge bei der Kleiderkammer für mich zu beantragen. Da es sich um gebrauchte Sachen handle, habe nur Hirschel, nicht auch der Parteibevollmächtigte zuzustimmen; und da ich es innerhalb der Freigrenze zahlen müßte und das nicht vermöchte, bekäme ich das Zeug umsonst – Wohltätigkeit der Reichsvereinigung. Ich sollte das durchaus und skrupellos tun, denn sonst fielen die Sachen doch bloß an Gestapo und Konsorten. – Ich bin in großer Kleidernot, aber das widerstrebt mir ungemein. –
    Kartoffelnot und erfolgloses Herumjagen Evas nach Lebensmitteln. Aber in der Zeitung kündigt man triumphierend »Erhöhung der Brot- und Fleischration« für Oktober an. Ob es ein Bluff ist? Eine Desperadomaßnahme? Immerhin: Selbst in diesem Fall stopft es für eine Weile die Mäuler, der Krieg geht weiter, und die Zeit ist gewonnen, die zu unserer Ausrottung gebraucht wird.
19. September, Sonnabend nachmittag
    Heute vor einem Jahr wurde der Judenstern aufgeheftet. Welch namenloses Elend ist in diesem Jahr über uns gekommen. Alles Vorherige scheint leicht demgegenüber. – Und Stalingrad fällt eben, und im Oktober gibt es mehr Brot: Also kann sich die Regierung über den Winter halten; also hat sie Zeit zur gänzlichen Vernichtung der Juden. Ich bin tief deprimiert. – Dazu die ständige Müdigkeit. Jetzt auf weite Wanderung nach der Wiener Straße hinüber. Abschiedsvisite bei Pinkowitz, Kartoffelschnorren bei Hirschels. – Herzls Tagebuch.
2. Oktober, Freitag nachmittag
    Sehr müde vom Scheuern der Küche und von tiefer Depression. – Hitlers Rede zum Beginn des Winterhilfswerkes. Seinealte Leier maßlos übersteigert: Die stupenden deutschen Erfolge, die deutsche Moralität, die deutsche Siegesgewißheit – es geht uns immer besser, wir halten es noch viele Jahre aus … Maßlos übersteigert auch das Beschimpfen der Gegner, die Minister sind »Schafsköpfe«, »Nullen, die man nicht voneinander unterscheiden kann«, im Weißen Haus regiert ein Geisteskranker, in London ein Verbrecher. Maßlos Rachedrohungen gegen England, gegen die Juden in aller Welt , die die arischen Völker Europas ausrotten wollten, und die er ausrottet … Nicht daß ein Wahnsinniger in immer stärkerer Tobsucht tobt, sondern daß Deutschland das hinnimmt, nun schon im zehnten Jahr und im vierten Jahr des Krieges, und daß es sich immer weiter ausbluten läßt, ist so grauenhaft. Und nirgends ein Ende abzusehen. Die Kräfte der Entente reichen zum entscheidenden Stoß nicht aus – und innen bleibt alles ruhig. Noch ein Winter, und dann noch ein Sommer … In acht

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