Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Tagen bin ich einundsechzig – was bleibt mir günstigstenfalls?
9. Oktober, Freitag gegen Abend
Trostloser Geburtstag, trostloser als voriges Jahr. Damals kannte ich noch keine Haussuchungen, war auch nicht so mordumlauert. Hoffnung auf Überleben ist sehr schwach geworden. Auch das Physische zählt: Die Zigarre, der Süßstoff waren im vorigen Jahr nicht ganz verschwunden, die Kartoffel herrschte nicht so ganz allein. – Und Eva war noch nicht zum Gerippe abgemagert. – Am Vormittag scheuerte ich die Küche. Am Nachmittag ging ich zum jüdischen Friedhof – ominöser Weg –, um Steinitz für Sonnabend ein-, für Sonntag auszuladen. Dazwischen Arbeit an Pourrat. Wenn ich überlebe, ergibt er ein paar Seminarstunden oder eine Seite neuester Französischer Prosa. Und wenn ich nicht überlebe, so bin ich anständig über die Zeit gekommen und auf meine Weise tapfer gewesen.
Zu den Heeresberichten der letzten Wochen »prägte« ich das Wort: »In Stalingrad nahmen wir in harten Nahkämpfen eine weitere Dreizimmerwohnung mit Bad.« –
14. Oktober, Mittwoch nachmittag
Gestern, am 13. (man könnte abergläubisch werden – die Finger sind steif vor Herbstkälte …), gestern kam das unglaubliche Gerücht, das sich heute bewahrheitete: Den Juden werden alle Fleisch- und alle Weißbrotmarken entzogen. Vor wenigen Wochen wurde angekündigt: Vermehrung der Fleisch- und Brotration, weil es um Deutschlands Ernährung immer besser stünde; vor wenigen Tagen erklärte Göring: Das deutsche Volk werde nicht hungern, das Hungern überlasse er notfalls den besetzten Gebieten. Und nun also können die Juden wie die gefangenen Russen die Mülltonnen durchsuchen. Ich bin tief deprimiert.
17. Oktober, Sonnabend spätnachmittag
Heute zum erstenmal die Todesnachricht zweier Frauen aus dem KZ. Bisher starben dort nur die Männer. Von diesen zwei Frauen hatte eine verbotenen Fisch im Kühlschrank gehabt, die andere auf dem Weg zum Arzt die Trambahn benutzt, die sie nur zur Arbeitsstätte hätte benutzen dürfen. Beide wurden von dem Frauenlager in Mecklenburg nach Auschwitz transportiert, das ein schnell arbeitendes Schlachthaus zu sein scheint. Todesursache: »Alter und Herzschwäche«. Beide waren um die Sechzig, die eine besonders robust. Bericht der Frau Ziegler.
23. Oktober, Freitag abend
Morgen will Eva wieder einmal nach Pirna. Geld muß geholt werden (es geht auf die Neige), einiges ist in Sicherheit zu bringen – (neulich bei der Metallabgabe half auch Elsa Kreidl) –, vor allem natürlich meine Manuskripte. – Ist es recht, daß ich Eva damit belaste? Es würde im Notfall fraglos ihr Leben genauso kosten wie meines. Man stirbt jetzt um geringerer Sachen willen. Ich frage mich immer wieder, ob ich recht tue. Ich frage mich auch immer häufiger, ob denn die Sachen bei Annemarie wirklich in Sicherheit sind. Sie ist schon mehrfach als antinazistisch aufgefallen. Eine Haussuchung bei ihr, und wir sterben alle drei. – Zuletzt aber sage ich mir immer wieder, man müsseFatalist sein, ich täte meine Pflicht. Aber ist das wirklich meine Pflicht, und darf ich Eva derart exponieren?
27. Oktober, Dienstag vormittag
Am Sonntag brachte Frau Ziegler aus der Gemeinde wirre Hoffnungsgerüchte. Es sollten Friedensverhandlungen zwischen USA und Italien im Gang sein; die Russen hätten um Waffenstillstand gebeten … Über Italien hatten wir schon vorher gehört, es sei kriegsmüde, und Amerika suche es zu ködern, indem es die italienischen Kriegsinternierten freigebe. – Am Nachmittag waren Hirschels unsere Gäste, und auch sie wußten um die italienische Angelegenheit und setzten Hoffnungen darauf. Aber die frühere Unterscheidung zwischen optimistischen und pessimistischen Juden ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Jeder, aber auch jeder, sagt dasselbe, zumeist in ganz gleicher Formulierung: »Sie sind in absehbarer Zeit verloren, rettungslos verloren, aber wenn es nicht rasch geht – und danach sieht es nicht aus –, machen sie uns vorher fertig.« Wirklich schleicht der Mord so gräßlich um wie noch nie zuvor. Acht Frauen in einer Woche, acht jüdische Frauen der kleinen Gemeinde Dresden, in der einen letzten Woche »verstorben«. Die Zahl stammt von Hirschel. Schlimmer fast als dieses Töten ist die Aushungerung der Kinder. Frau Hirschel macht uns genaue Angaben über die Verkürzung der jüdischen Kinderrationen, entsetzliche Verkürzungen an Fleisch, Brot, Zukker, Kakao, Obst … Sie sagt, die ständige Hungerklage der
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