Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
beides: »Es wird die letzte Weihnacht im dritten Reich sein.« – »Aber das haben wir schon im vorigen Jahr gedacht, und wir haben uns getäuscht.« Wiederum: »Diesmal steht es anders.« – »Aber wir haben schon so oft die Widerstandskraft des Nationalsozialismus unterschätzt.« Usw., hin und her. Als wir uns gegen zehn schlafen legen wollten, kam noch Herbert Eisenmann herauf, und wir plauderten ein Weilchen ergebnislos über den Krieg. –
31. Dezember, Donnerstag abend
Vormittag ein sehr ermüdender Weg zur Bank (Miete), Gemeinde (Neujahrswünsche ins Lager, vollkommen inhaltslose Zeitung), Steinitz. Er war kurz zuvor, vom Zahnarzt kommend, in der Prager Straße von einem Gestapomann gestellt worden: »Du hast hier gar nichts zu suchen; scher dich in die Nebenstraßen!« – Nachmittags zerschlagen von heftigsten Leib- und Magenschmerzen – Kohl und Kartoffeln, Kartoffeln und Kohl. – Bitterste Stimmung. Alle, mit denen wir voriges Silvester zusammen waren, sind ausgelöscht durch Mord, Selbstmord und Evakuierung. Dies Jahr 42 war von den zehn NS-Jahren bisher das schlimmste: Wir haben immer neue Demütigung, Verfolgung, Mißhandlung, Schändung erlitten, Mord hat uns ständig umspritzt, und jeden Tag fühlten wir uns in Todesgefahr. Und dabei kann ich nur sagen: Bisher das schlimmste Jahr, denn es besteht alle Aussicht, daß der Terror noch weiter steigt, und das Ende des Krieges und dieses Regimes ist nicht abzusehen.
Irgend etwas zu produzieren vermochte ich das ganze Jahr nicht – alles ist mir aus der Hand geschlagen. Ich suchte nur, mit aller erreichbaren Lektüre mich ein bißchen fortzubilden, ganz allgemein in der LTI-Richtung (mit dem jüdischen Sonderkapitel); in allerletzter Zeit auch in der Richtung auf die jüngste französische Literatur. Aber das hat schon ein Ende, da man Natcheffs Bibliothek schloß.
Am 3. September zogen wir hierher, ins zweite Judenhaus.
Von jüngeren Jugendfreunden starben Erich Meyerhof und Hanna Stern-Cristiani. Von meinen Geschwistern starb im August Grete.
1943
1. Januar, Freitag abend
Der Papiermangel ist so groß, daß nirgends ein Abreißkalender aufzutreiben war.
Herbert Eisenmann berichtete von einem Aufruf Hitlers an Front und Volk: In diesem Jahr 1943 werde er den »klaren Endsieg« erringen. Vater Eisenmann äußerte wieder seine Überzeugung, daß das Regime im März zusammenbrechen werde. – Frau Eger, die sich abseits hält und immer die Maske des lächelnden Gleichmuts trägt, auch nie mit einem Wort andeutet, daß sie den Mann im KZ weiß, machte uns einen Neujahrsbesuch. Ihr und Lewinsky gegenüber verfocht ich strikte die Meinung, daß das Regime am Niederbrechen sei – so strikte, daß ich mir’s fast selber einredete. Aber im Innersten bin ich doch recht hoffnungslos. Ich vermag mir gar nicht vorzustellen, wie ich noch einmal sternlos als freier Mann und in leidlicher Wirtschaftslage leben könnte.
8. Januar, Freitag vormittag
Die Finanzer arbeiten wieder im Haus, jetzt werden viele große Kisten fortgeschafft, die Kunstsachen wohl. Als ich neulich die Treppe herunterkam, brüllten zwei Riesenkerle »Guten Tag, Herr Professor« und schüttelten mir die Hände. Alte Packer von Thamm in alter Freundschaft (mindestens alte SPDer, wahrscheinlich alte KPDer). Es tat wohl, aber es half so wenig wie die Kriegsnachrichten. Auf der Gemeinde, wo ich gestern gegen Abend die neuen Lebensmittelkarten holte und einen Blick in die Zeitung tat, teilte mir Hirschel Egers Tod mit. Im fünfzigstenJahre. Insuffizienz des Herzmuskels. Lager Auschwitz. Die Asche wird nicht übersandt. Die Witwe ist zu benachrichtigen. Hirschel bat mich, diese Benachrichtigung zu übernehmen. Ich zögerte, ohne abzulehnen. »Ich kann ihr nicht sagen: ›Gott wird Sie trösten usw.‹.« – »Ich auch nicht mehr … Ich werde sie herbitten, im Bureau wird sie sich zusammennehmen, und das ist ihr und mir eine Hilfe.« Während er den Brief diktierte, wurde sie selber als anwesend gemeldet. (Wohl der Lebensmittelkarten halber.) So hat sie es denn dort erfahren, und uns bleibt nur die Kondolenz. (Und das Grauen.) –
14. Januar, Donnerstag nachmittag
Wir saßen gestern beim Nachmittagskaffee. Da erschien Steinitz, es sei von der Gemeinde zum Friedhof telefoniert worden, sogleich nach mir zu schicken wegen der »Reise nach Dölzschen«. Von da an hatte ich keine gute Stunde mehr. Um vier auf der Gemeinde, wurde ich gleich zum Polizeipräsidium herübergejagt, traf dort den
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