Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
daß wir diesmal Einblick in dasInferno haben und mit ihm in Konnex bleiben. Ist es eine gemäßigte Hölle? Das muß sich herausstellen. Der junge Eisenmann, der am Auffüllen der Bettsäcke etc. mitgeholfen hat, sagte: »Katastrophal!« Unvorstellbar eng und barbarisch primitiv, besonders die Aborte (wandlos nebeneinander und viel, viel zu wenige), aber auch die schmalen Betten usw.
28. November, Sonnabend vormittag
Gestern nachmittag bei Steinitz und dann nach Haus – stellenweis – getastet. Steinitz gab mir eine Rasierklinge (sie sind seit Tagen vom Markt verschwunden, längst nur noch einzeln zu kaufen gewesen). Und dann etwas Groteskes: einen Zigarettenkarton mit Zähnen. Zähne sind Mangelware, Eichler hat längst keine mehr, so läuft Eva seit vielen Monaten mit der großen Lücke im Mund herum; er wollte Eva schreiben, sobald er Material hätte, und schrieb nie. Ein Zahntechniker, der beim Friedhofsgärtner arbeitete, hat diesen Karton dort deponiert – nun soll sich Eichler Brauchbares auswählen und es nach dem Tagespreis bezahlen. Er darf aber nicht wissen, wo die Ware herstammt. Heimliche Zähne vom Judenfriedhof, es klingt märchenhaft schauerlich – es ist aber auch real gesehen toll genug, und wie leicht kann es zu einer Katastrophe führen. Causa sufficiens für Gefängnis und »Fluchtversuch«.
3. Dezember, Donnerstag vormittag
Brief von Sußmann, herzlich und aufregend durch seine Ahnungslosigkeit. Schreibe mir die (belanglosen) Einzelheiten deines Tagesablaufs, wie du »Deine Einkäufe machst, spazieren gehst usw.« Wenn ich ihm das schreibe – was sagt die Zensur und was die Gestapo dazu? Spazierengehen – wo immer Angst im Spiel ist, vor Verhaftung, vor Beleidigung, mindestens durch Kinder (was in letzter Zeit häufiger vorkommt) – und nun gar das Thema »Einkaufen«!
11. Dezember, Freitag vormittag
Seit gestern – morgens Karte von Richter, »dringende Grundstücksangelegenheit«, nachmittags mein Besuch in der endlos entfernten Victoriastraße – Verstörtheit des Hauses wegen. Diesmal wohl der endgiltige, nicht mehr abzuwendende Raubzug. Ein kombiniertes Spiel, wie mir Richter sagt. Er selber sei hilflos, gerate in Verdacht der Judenfreundlichkeit, ein Rechtsmittel habe ich nicht. Die Partei hat den jetzigen Geldgeber, einen Baumeister Linke, gezwungen, die Hypothek zu kündigen und jeden zur Nachfolge Gewillten zu warnen. So ist eine neue Hypothek ausgeschlossen; die jetzige erlischt am 1. 4., Zwangsversteigerung wäre für Mai oder Juni zu erwarten. (»Bis dahin ist lange Zeit.« – »Haben Sie Hoffnungen?« – »Ja.« – »So schnell wird es nicht gehen, hinter jedem steht ein Aufpasser, und der Terror ist zu groß.«) Dringender und wohl unmittelbar verderblich der andere Vorstoß, der eigentliche Betrug. Ausgehend von dem auf Militärurlaub befindlichen Bürgermeister. An meinem Hause – schon einmal behauptet worden, von Richter selber als neunundneunzigprozentige Erfindung behandelt – seien Reparaturen in Höhe von 3000–4000 M notwendig, u. a. »Erdbewegung« für 800 M, weil Erde gegen den Straßendamm hin abrutsche. Der Bürgermeister hat baupolizeiliche Verfügung beantragt zur Sicherstellung dieser Summe. Kann ich sie nicht zahlen, so tritt unmittelbar Zwangsversteigerung ein, bei der kein Pfennig für mich übrigbleibt. Da Berger bei der Zwangsversteigerung sein Vorkaufsrecht verliert und da man von ihm keine Reparaturen verlangen würde, so ist er bereit, das Haus sofort für 16 500 M zu übernehmen – ich würde dann wenigstens ein bißchen Geld auf mein Sperrkonto gezahlt erhalten. Er, Richter, rate hierzu als zu dem kleineren Übel. – Ich habe mir Entscheidung vorbehalten. Eva soll selbst einmal mit Richter sprechen. Eh schon seit Tagen hart mitgenommen, ist sie nun gänzlich am Boden. Ich brauche ja nicht zu wiederholen, wie leidenschaftlich und verzweifelt sie an diesem Haus hängt. –
26. Dezember, Sonnabend vormittag
Zweiter Feiertag, ganz leichter Frost, eher etwas über null Grad.
Eigentlich habe ich mich vor Weihnachten meist gefürchtet. Diesmal verläuft es aber bei aller Kahlheit und Bedrücktheit halbwegs glimpflich. Eva hatte ein sehr hübsches Bäumchen besorgt, schön ausgeschmückt und auf dem Flügel in Position gebracht. Geschenke, gutes Essen, Alkohol, Süßigkeiten fehlten gänzlich, alles war noch kahler als im vorigen Jahr – und wieviel Elend hatten wir seitdem durchlebt und mitangesehen. Unsere Gedanken gingen immer um dieses
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