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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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beiden kleinen Jungen sei für sie das furchtbarste. »›Mutter, sieh mal, der Junge hat ein Würstchen und beißt hinein! – Mutter, ich bin doch auch so hungrig – Mutter, warum bekommen wir nur zwei Scheiben Brot? …‹ Usw. usw. den ganzen Tag!«
13. November, Freitag gegen Abend
    Am Nachmittag brachten Fränkel und Frau Ziegler als Gewißheit heim, was schon seit einer Weile als Gerücht kursierte: Die jüdischen Arbeiter bei Zeiss-Ikon, etwa dreihundert von den noch in Dresden befindlichen sechshundert Juden, kommen inBaracken. Das läuft auf eine tatsächliche Evakuierung hinaus, denn auch sie werden bis auf das Handgepäck enteignet, und man hält sie dann wie Gefangene: Gemeinschaftslager, Gemeinschaftskost, in Gruppen zur Arbeit geführt – sonst im Lager festgehalten, keine Bücher, keine Zeitungen, keine Kommunikation mit der Welt. – Was geschieht nun mit dem Rest der Juden hier, mit den Mischehen, mit uns ? Da strengste Isolierung der Juden angestrebt ist, wird man uns nicht in Freiheit lassen. Es heißt, alle Mischehen sollten in das Gemeindehaus und das Henriettenstift zusammengepfercht werden. Ich bin sehr besorgt.
19. November, Donnerstag vormittag
    Hier wusseln, packen, klagen, sind schlaflos und übernächtig die zu den Baracken Verurteilten (Fränkels, Schwester Ziegler, Fräulein Imbach). In allem Elend sagt heute morgen die Frau Fränkel zu mir mit einem Ausdruck der Hoffnung im Gesicht: »Es ist fünf Minuten vor zwölf!« – Ich: Woher ihr diese Hoffnung komme, niemand im Haus sei doch skeptischer und pessimistischer als ihr Mann. – Brief von einem wohlunterrichteten Freund aus dem italienischen Meran; darin heiße es wörtlich so. Und dann, »Generalmobilisation in Spanien zur Wahrung der Neutralität – sie scheinen aber mehr zu England-Amerika zu neigen als zu Deutschland.« – Ich lief vom Abwaschen weg zu Eva hinauf, die noch mit nackten Armen stand. Wir umarmten uns und hatten Tränen in den Augen. Hinterher ging mir auf: Wie über alles Bewußtsein groß muß unsere latente Verzweiflung sein, wenn ein so nichtiger Anlaß – denn was an dem Fränkelschen Bericht hat Wert, bietet Gewißheit? – uns derart ergreift!
21. November, Sonnabend nachmittag
    Frau Ziegler schenkte mir einen wundervollen, fast neuen Schlafrock ihres verstorbenen Mannes. Der erste Schlafrock meines Lebens. Mir ist das schlappe, senile, philiströse Kleidungsstück prinzipiell zuwider. Aber als ich heute früh von halb fünfbis sechs Uhr vorlas – immer noch den »Weißen Affen« –, tat es herrliche Dienste und wurde mir lieb, wohl dauernd lieb. Solche Geschenke anzunehmen ist jetzt durchaus üblich. Denn was die Ausgetriebenen nicht fortschenken, wird ihnen von der Gestapo geraubt (wenn sie auch, vielleicht, den nominellen Gegenwert auf ihr Sperrkonto gezahlt erhalten, so wie ich 40 M für meine Schreibmaschine bekam). Und »ererbtes«, gebrauchtes Zeug zu tragen ist jetzt allgemeines Geschick. Was habe ich schon alles an solchen Erbstücken am Leibe! Einen Hut von John Neumann (noch für besseres Wetter aufgespart), ein Hausjackett gleicher Herkunft, ein Paar Schuhe von Paul Kreidl, Socken von Ernst Kreidl und feu Herrn Ziegler, Hosen von Unbekannt aus der Kleiderkammer, drei Hemden aus gleicher Quelle, ein Hemd von dem gefallenen Häselbarth aus Dölzschen.
    Heute sagte ich mir: Wenn es mir nicht gelingt, wenn ich nicht Zeit zu haben glaube, LTI als Sonderwerk auszuarbeiten, dann veröffentliche ich die (natürlich gefeilte und geordnete) Gesamtheit meiner Tagebücher seit 33. Eben den antizipierten 4. Band meines Curriculum (I ist ganz fertig, II in wenigen Wochen fertigzustellen, III, Dresdener Professur 1920–1933, müßte warten). Dieser Gedanke ist mir schon wiederholt gekommen; neu war heute daran, daß ich diesem 4. Band des Curriculum den Titel »Die Sprache des 3. Reichs« summo jure geben könnte. Denn 1) würde er all mein philologisches LTI-Material bringen und 2) würden ja doch alle mitgeteilten Fakten die Sprache des 3. Reichs sprechen, z. B. die eben gemachte Aufstellung meines Garderobenerbes! – und 3) spräche aus der ganzen Umkehr oder Skepsis oder Brüchigkeit meiner Grundideen seit 1933 die Erschütterung durch das 3. Reich.
24. November, Dienstag vormittag (Erster Frosttag, fester Schnee auf Dächern und Straßen)
    »Judenlager Hellerberg«. Eva sagte, diese neue Art der Evakuierung sei deshalb so schamlos, weil alles so offen vor sich gehe. Das Neue daran ist jedenfalls,

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