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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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acht auf der Straße gewesen.«) Das ist genau das gleiche, wie wenn es in dem Emigrantenbrief heißt: » Charakterlich paßt er zu uns.« Dieselbe innerliche Unterwerfung.
14. Februar, Sonntag mittag
    Ich muß den gestrigen Tag, Sonnabend, 13. 2. 43, als ganz besonders wichtig herausheben. Er brachte mir das erste Zeichen, und fast eine Gewißheit, daß die von mir für unmöglich gehalteneRevolution von innen her im Anzug ist. Ich war bei Schrapel-Richter, nominell der Steuererklärung halber; faktisch, weil ich von Richter über Stimmung und Lage sozusagen »Arisches« hören wollte. Er öffnete mir selber, wir unterhielten uns über eine Stunde (von etwa zwölf bis nach eins) in seinem Privatbureau, er war noch herzlicher, dringlich herzlicher als in den früheren Zusammenkünften. Womit er mir helfen könnte – ich sollte nur alles sagen. Er drängte mir Rasierklingen auf – neun unwahrscheinlich dünne, ein Segen! –, er telefonierte mit seiner Frau, wie groß ihr Überfluß an Kartoffeln wäre, wir verabredeten neues Zusammentreffen für nächsten Sonnabend, wo ich dann Geld, Kartoffeln, Brotmarken, wohl auch »das Dreckbuch, an dem er Millionär geworden ist und das man ihn im Gefängnis schreiben ließ, ich habe die ›Zelle‹ gesehen, ein Zimmer, so groß und bequem eingerichtet wie dieses hier und ein Garten dabei zum Spazierengehn, und das für Hochverrat! – sie war zu schwach, die Demokratie, das war ihr Fehler, der sich nicht wiederholen darf …« – wo ich also auch wahrscheinlich Hitlers »Mein Kampf« von ihm bekomme. Aber viel wichtiger als dies alles war ein anderes. Immer wieder kam Richter darauf zurück: »Wo gehen Sie hin, wenn Unruhen ausbrechen? Sie müssen sofort abrücken (sic), aufs Land … es könnte zu Schlächtereien kommen.« Ich sagte ihm, es sei für mich unmöglich, Dresden zu verlassen. Dann müßte ich hier untertauchen. Einen leeren Raum, ein Notbehältnis könne er mir verschaffen. Ich fragte ihn geradezu, was er denn erwarte. Im Laufe dieser zwölf Monate – womit er nicht sagen wolle, erst in zwölf Monaten – käme bestimmt ein Umschwung. »Von rechts?« – »Nein, von links.« – Aber das Bürgertum fürchte doch den Kommunismus! – »Von der alten Sozialdemokratie her«, er wisse es genau. – Aber nur durch die Truppe ließe sich doch etwas erreichen. – Gewiß, aber es komme, er dürfe nur nicht mehr sagen. Und wenn es nicht schnell gehe, dann sei natürlich für die Juden große Gefahr; ich müßte durchaus »abrücken«, ich könnte in sein Bureau kommen, irgendwo finde er einen leeren Raum für mich. Er könne nicht allen helfen,er sei seiner Familie verpflichtet, er müsse mich im Notfall verleugnen – zwischendurch ein Telefonat mit jemandem, den er ein dutzendmal »Kamerad Hauptmann« apostrophierte und mit »Heil Hitler« begrüßte –, aber er habe mich doch in diesen Monaten kennengelernt, und er möchte mir so gerne helfen … Ich sagte, ich könnte ja in meiner Isoliertheit nichts erfahren, mich würde man irgendwann überfallen und abkehlen … »Das kann natürlich Ihr Schicksal sein – aber vielleicht erfahren Sie doch beizeiten, daß etwas bevorsteht, und dann müssen Sie abrücken, und dann finde ich schon einen Raum für Sie.« … Das kehrte immer wieder, während das Gespräch über Steuererklärung, unsere Notlagen, Militärisches etc. etc. hin und her ging.
    Ich sagte, ich würde in letzter Zeit viel von Kindern auf der Straße belästigt. Er: Sein Ältester, elf Jahre, sei jetzt beim »Jungvolk«; wenn sie marschierten, heiße es plötzlich »Augen rechts«. Und dann: »Da habt ihr einen Juden gesehen; wißt ihr, was es mit den Juden auf sich hat?« Worauf die entsprechenden Belehrungen folgten … Ich erwähnte die sechs hingerichteten Protektoratsjuden, deren Leichname neulich dem jüdischen Friedhof übergeben worden seien. Er: Ein ihm Bekannter sei jetzt an das Landgericht Münchner Platz versetzt und habe die Aufgabe, die Wertsachen der zum Tode Verurteilten einzuziehen; von diesem Mann, der also genau Bescheid wisse, erfahre er, Richter, in welchem Umfang die Guillotine hier arbeite: Neulich seien an einem Tage 21 (einundzwanzig) Köpfe gefallen, keineswegs nur jüdische. –
    Eva soll das Tagebuch bald wieder zu Annemarie bringen. Die Guillotine auf dem Münchner Platz arbeitet aus geringeren Anlässen. –
18. Februar, Donnerstag spätnachmittag
    Stundenlang unten: den Kaffee besorgt, abgeräumt, Hilfe bei der großen

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