Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
zuständigen Beamten nach langer Irrfahrt im Augenblick seines Aufbruchs und erhielt mit Geknurr ein Formular, das »dem Juden Klemperer« für den 14. 1. in der Zeit von acht bis sechzehn Uhr das einmalige Verlassen des Stadtgebietes nach Dölzschen gestattete. Die erforderliche Fahrtgenehmigung hätte ich mir am nächsten Morgen auf der Verkehrspolizei am Sachsenplatz zu holen (zu Fuß natürlich). Zurück zur Gemeinde, und diese Aufklärung von dem jungen Kahlenberg erhalten. Bürgermeister Christmann habe sich unmittelbar an die Gestapo gewandt, »die uns eins aufs Dach erteilte«. Man würde nun in Dölzschen gewiß meine schriftliche Verkaufsgenehmigung fordern. Er, Kahlenberg, rate mir nach seinen Erfahrungen, mich nicht zu weigern. Weigerung sei mit KZ- und Lebensgefahr verbunden. Ich: Dann erbe meine arische Witwe das Haus, wie dies im Fall Ernst Kreidl geschehen. Er: Das sei nicht sicher, es gebe auch Fälle der Vermögensbeschlagnahme – wenn es z. B. »dem gesunden Volksempfinden« oder dem »Staatsinteresse« entspreche (mit diesen zwei Formeln sei alles zu machen), die Judenreinheitder Gemeinde Dölzschen herzustellen, in der mein Haus das einzige jüdische Eigentum sei.
17. Januar, Sonntag mittag
Im Zeiss-Ikonwerk kündigt man den Juden in Massen. Das ist schon bei der Hälfte der Belegschaft durchgeführt. Vorher kämpfte das Werk gegen die Gestapo: Die Judenabteilung sei besonders gut eingearbeitet, müsse erhalten bleiben. Im vorigen Januar bei der Evakuierung gab es einen großen dramatischen Umschwung: Erst bestimmte die Gestapo, dann holte sich das Werk seine schon zur Verschickung bereitstehenden Juden zurück. Jetzt soll eine Reichsverfügung vorliegen: In Rüstungsbetrieben dürfe kein Jude mehr beschäftigt werden. (Angst und Terror gehen parallel mit der Verschlechterung der Außenlage.) Vorderhand werden die Entlassenen anderweitig in Dresden beschäftigt. Kätchen Voß bei der Reichsbahn – mit Waggonreinigung. Aber Polen droht.
Wenn ich vom Friedhof durch die Fiedlerstraße nach Hause gehe, komme ich an einer großen Schule (oder einem Schulkomplex?) vorbei. Oft strömen die Schüler heraus, und dann mache ich immer die gleiche Erfahrung: Die größeren Jungen gehen anständig an mir vorüber, die kleinen dagegen lachen, rufen mir »Jude« nach und ähnliches. In die Kleinen also ist es hineingetrichtert worden – bei den größeren wirkt es schon nicht mehr. Eva sagt, sie beobachte an den Schulkindern deren gesundheitlich sehr schlechtes Aussehen. Dagegen blühten die ganz Kleinen und Säuglinge. Kindernährmittel und vor allem Vollmilch wird nur bis zu sechs Jahren abgegeben. –
18. Januar, Montag nachmittag
Am Sonnabend, 20.30 Uhr – wir wollten uns gerade zu Tisch setzen – Entwarnungssirene. Wir wunderten uns noch darüber, als das Alarmsignal folgte. Es hatte hier so viele Monate keinen Alarm gegeben, daß man sich offenbar im Sirenenknopf vergriffen hatte. Wieder blieb Dresden verschont. (Man sagt längst, eswerde als »künftige Hauptstadt der Tschechei« aus dem Spiel gelassen.) Ein bißchen fernes Flakschießen und nach ruhigen anderthalb Stunden Entwarnung. Am Sonntag nachmittag berichtete Herbert Eisenmann, »sie seien in Berlin gewesen und hätten Schaden verursacht«. Gestern, genau um die gleiche Zeit, wieder Alarm, wieder anderthalb Stunden anhaltend, wieder kein Angriff auf Dresden. Eben war Frau Eger hier – sie bat um eine Zigarette, und wir kondolierten – und erzählte, die Flieger seien wieder in Berlin gewesen und hätten sehr viel Unheil angerichtet.
Heute vormittag bei dem Verwalter Richter. Zu »kurzer Besprechung« über meinen Besuch beim Bürgermeister Christmann und wie man die Reparaturen überwachen könne. Aus der »kurzen Besprechung« wurde ein Gepräch von fünf Viertelstunden, und ich ging geradezu erhoben nach Haus. Richter erzählte, er sei vor der »Machtübernahme« leidenschaftlicher Nazi und auf gutem Posten in der Propaganda gewesen, er sei aber im April 33 ausgetreten, weil er schon damals das Absinken der Sache deutlich gesehen habe. Jetzt stünde man am Ende. Wenn es nur bald käme. In den Propagandavorträgen werde nur noch vom »Aushalten«, nicht mehr vom Sieg gesprochen, an den niemand mehr glaube. Die Verluste seien ungemeine, die Tyrannei auch gegen Arier sei unerträglich. Die Frage, was »aus der Nation werde«, sei schon nur noch sekundär, jeder frage sich, ob man überleben werde. Vielleicht komme der Umschwung sehr
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