Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
Wäsche. Jetzt ist Eva, abgekämpft, in die Stadt auf verzweifeltem Einkaufsversuch. Ich – wenn die Müdigkeit es zuläßt – kann von sechs bis sieben hier oben tätig sein. Danachist der Rotkohl zu zerhacken: Die Geschichte des Rotkohls ist nachzutragen. Wir leben fast ausschließlich vom schwindenden Kartoffelvorrat, Gemüse, das nicht als »Mangelware« gilt, ist kaum aufzutreiben. Gestern also in einem Geschäft der Gerokstraße, die Inhaberin, Frau in den Vierzigern, ist mir schon als gefällig bekannt. Im Laden ein paar Käuferinnen, darunter eine grauhaarige Frau aus dem Volk, etwa die Mutter eines verheirateten Trambahnschaffners. Sie ist sehr zärtlich mit ihrem großen braunen Boxer, erzählt, wie er zur Oma flüchte, wenn er Prügel bekommen soll, streichelt ihn usw. Ich gewinne wohl ihr Herz, als ich ein paar freundliche Worte über die Boxer im allgemeinen sage. Die Inhaberin, als die Reihe an mir: »Sauerkraut leider nur auf Kundenkarte; Streichhölzer – nein, Salz – nein.« Ich, bittend: »Vielleicht ein Rotkohl? Es ist so schwer – ich habe keine Haushaltskarte.« Als captatio benevolentiae habe ich mit einer Kohlrübe angefangen – die mag keiner, der Kohlrübenwinter 17 ist wirksam geblieben. Übrigens tut man ihr Unrecht. Die Frau mitleidig, zögernd: Einen Rotkohl könnte ich allenfalls haben. Wiegt ihn aus, legt ihn zur Kohlrübe, holt auch noch eine Tüte Salz (großes Entgegenkommen!). »75 Pf.« Wie ich die Brieftasche ziehe, sagt die Oma neben mir: »Lassen Sie – ich zahle das für Sie.« Mir wurde wirklich heiß. Ich dankte ihr und reichte den Markschein über den Tisch. Sie: »Aber lassen Sie mich doch zahlen.« Ich: »Es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, ich danke Ihnen herzlich – aber es geht ja nicht ums Geld, nur um die Karte.« Jetzt die Inhaberin: »Kommen Sie doch mal gegen Abend, da gebe ich Ihnen mehr. Bei Tage – ich beliefere hier SA, ich muß vorsichtig sein.« – Ich, es sei mir nur von drei bis vier erlaubt. – Sie: Sie nähme es nicht so genau. Ich: »Sie nicht – aber wenn es ein anderer sieht und anzeigt, kostet es mich das Leben.« Die Inhaberin: »Dann kommen Sie in Ihrer Zeit vorbei – ich werde Ihnen ein Zeichen geben, wenn die Luft rein ist.« Ich ging beinahe erschüttert fort. Nachher fürchtete ich mich, weil ich in Gegenwart der Kundinnen gesagt hatte, es koste mich das Leben, wenn usw. Greuelpropaganda! Ausreichend für KZ und Fluchtversuch.
20. Februar, Sonnabend nachmittag
Eva war gestern bei Frau Ahrens zu Gast, wurde mit Kuchen durchgefüttert, brachte noch Kuchen und einen überschweren Beutel Kartoffeln nach Haus, leider aber auch die Meinung der Frau, daß eine deutsche Sommeroffensive bestimmt kommen und der Zusammenbruch erst im Herbst erfolgen werde. – Erhoben wurde ich erst wieder durch Richter, den ich verabredetermaßen heute vormittag besuchte – sehr anstrengend, besonders durch die Schlepperei auf dem Heimweg. Vor alledem aber kam Richter wieder auf die erwarteten Unruhen zu sprechen und diesmal schon genauer. Das soll mit Bestimmtheit von Berlin und der Küste her zu erwarten sein. Ob bald, ob später, sei nicht zu sagen. Wenn ich eine Postkarte von ihm erhielte: »Rufen Sie mich in Sachen Ihres Grundstücks an«, dann sollte ich mich sofort mit ihm in Verbindung setzen. Er entwickelte einen schon weit gediehenen Plan zu unserer Rettung. Ich machte ihn auf die Linksverhaftungen aufmerksam. Er hatte davon auch gehört. Der Ausbruch der Affaire sei aber doch nicht aufzuhalten. Ich sagte, ohne Militär sei nichts zu erreichen. Er: Gewiß nicht, aber es werde an Militär nicht fehlen. Und er prägte mir noch einmal die Adresse ein. – Ich komme mir vor wie in einem wilden Abenteuer- und Revolutionsfilm. Wenn ich aber Goebbels’ Rede vom 18. 2. im Berliner Sportpalast bedenke, dann nehme ich Richters Meinung und Warnung vollkommen ernst. Den Wortlaut der Rede – ich will ihn gleich für LTI auslausen – gab mir Richter im »Dresdener Anzeiger« vom 19. 2. mit. Man war schon gestern auf dem Friedhof sehr deprimiert darüber, denn sie droht, mit den »drakonischsten und radikalsten Mitteln« gegen die an allem schuldigen Juden vorzugehen, wenn das Ausland nicht aufhöre, der Regierung Hitler um der Juden willen zu drohen. Sie bedroht und vergewaltigt übrigens auch die »Volksgenossen«. »Totaler Krieg – kürzester Krieg« war die Inschrift »des einzigen Spruchbandes an der Stirnwand des Saales«, und wer sich gegen
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