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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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rasch. Zwar sei die Waffen- verdoppelt, aber es würden »Freiwillige« zu diesem Dienst gepreßt . An den Fronten stehe es bei schwersten Verlusten überall sehr schlecht. Die Russen zielten nicht nur im Süden auf die Ukraine, sondern auch im Norden auf das Baltikum, und schon sei ihnen Riga nicht mehr allzu fern. Er erzählte, sein Junge besuche die Sexta des Kreuzgymnasiums. Da hätten sie jetzt ein Geschichtslesebuch, das von der Gegenwart nach rückwärts schreite und die Geschichte in Einzelerzählungen auflöse. Überschriften der einzelnen Stücke in dieser Reihenfolge – »das dreht einem doch den Magen um«! – Hitler, Göring, Horst Wessel, Herbert Norkus, Bismarck, Friedrich der Große.
24. Januar, Sonntag mittag
    Hirschel erzählte mir neulich: Clemens und Weser kamen unvermutet zu ihm, auf Wohnungssuche für einen Standartenführer. Sie benahmen sich wie die Tiere, prügelten unvermittelt auf ihn und Frau Hirschel ein, nahmen ein paar Streichhölzerschachteln und ein paar Papierservietten als verbotene Mangelware fort. Clemens, der große Blonde, der auch mich geschlagen hat, sagte: »Ich hasse dich so furchtbar, sei gewiß, ich mache dich noch einmal kalt!« Hirschel, der oft mit ihm zu verhandeln hat, erwiderte: »Warum eigentlich hassen Sie mich so?« Clemens: »Das kann ich dir ganz genau sagen: Weil du Jude bist. Bestimmt werde ich dich umbringen.« Hirschel meinte auch: Nur rascher Umschwung könne uns retten. – Es sieht so aus, als müsse sich das nun bald entscheiden. Die Heeresberichte sind für Deutschland katastrophal. In Afrika, im Kaukasus »setzen wir uns vom Feinde ab«, Stalingrad scheint verloren.
30. Januar, Sonnabend spätnachmittag
    Für mich war der heutige Tag der »Machtübernahme« ganz und gar Kartoffeltag. Bei frostfreiem Wetter gibt es wieder ganze Zentner, wir haben noch drei Zentner bis Ende Juli (bis Ende Juli!) frei, ich schaffte mühselig zwei heran. In doppelter Fahrt mit dem Handwagen vom Budchen am Anfang der Emser Allee aus. Der Sack war nicht zugebunden, nach zwei Schritten kollerten die Kartoffeln heraus. Ich las sie auf und band mit dem Taschentuch ab. Wieder zwei Schritte, und wieder kollerten die Kartoffeln. Ich bückte mich verzweifelt, da flatterte mein Kragenschoner. Signum coeli! Ich band den Kartoffelsack mit dem Schoner ab. Zur zweiten Fahrt, am Nachmittag, rüstete mich Eva mit einem Bindfaden aus. Da kam ich besser heim, aber mit bösen Herzbeschwerden, an denen das Memento das Böseste ist.
    Den Handwagen lieh ich mir auf dem jüdischen Friedhof vom Verwalter Jacobi; der ist mir sehr gewogen, seit ich seine oraison funèbre bei dem ermordeten Arndt »sehr würdig« genannt habe. Er schenkt mir etwas Tabak und macht gebildete Gespräche, wenn ich in seine Amtswohnung komme. Er erzählte, am nächstenMittwoch gebe es sieben Beisetzungen, wovon sechs geheimzuhalten seien. Die Leichen zum Tode verurteilter Protektoratsjuden. Sie wurden nach Dresden geschafft zur Hinrichtung. Im Landgericht am Münchner Platz arbeite eine Guillotine mit elektrischem Antrieb, alle zwei Minuten ein Kopf, nicht nur jüdische; Hauptschlachtzeit sei achtzehn Uhr, oft fielen bis zu fünfundzwanzig Köpfe hintereinander. Ich nehme ohne weiteres an, daß das »oft« und die Zahl Übertreibungen bedeuten, aber wenn nur die Hälfte davon wahr ist … Jacobi behauptet auch, es sei durch den Rundfunk eine Art Belagerungszustand erklärt und auf jede Widersetzlichkeit und jede Sabotage des neuen Arbeitsgesetzes Tod durch Erschießen gesetzt worden. – Eigentümlich und mir unerklärlich, wie in den Regierungsmaßnahmen der öffentliche Terror der Abschreckung und die geheime Grausamkeit Hand in Hand gehen. Gegen die Juden wird maßlos gehetzt – aber die schlimmsten Maßnahmen gegen sie werden vor den Ariern verheimlicht. Selbst nahestehende Leute kennen weder die kleinen Schikanen noch die grausigen Morde. Annemarie weiß nicht, daß wir kein Möbel verkaufen dürfen, daß alles beschlagnahmt ist – sie wollte uns ein Bücherregal abkaufen. Der Bürgermeister in Dölzschen wußte nicht, daß ich an die Stadtgrenze gebunden und ohne Fahrtberechtigung bin. Frau Eger sagte neulich: »Das ist das Schrecklichste für mich, daß die Leute immer sagen: ›Etwas muß doch Ihr Mann gemacht haben, man tötet doch niemanden ohne Grund!‹« (Ich kenne etwas noch Schrecklicheres, daß nämlich in solchem Fall auch Juden sagen: »Etwas wird er sicher getan haben, den Stern verdeckt oder nach

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