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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Frühjahr freizukommen; jetzt bin ich für Kriegsdauer rettungslos um meine Tage betrogen. Es wird nicht möglich sein, irgend etwas ernstlich fortzusetzen. Ich bin durch diesen neuen Schlag, sosehr er erwartet war, sehr deprimiert. Mein Leben wird immer armseliger. Und dies braucht keineswegs der letzte Schlag zu sein. – Ich komme eben von der Beisetzung des Johannes Müller. (Wann gräbt man meine Urne so ein?) Es war besonders scheußlich. Die Witwe, eine dicke, große alte Frau unter tiefstem Schleier, schüttelte sich vor Schluchzen, jammerte haltlos. Beim Handschütteln am Miniaturgrab immerfort: »Die arme Seele, die arme Seele!« Jacobi, der mir einmal gesagt, daß er »an den ganzen Meckmeck nicht glaube«, stoppelte wieder sinnlos Gebetsphrasen und Predigtformeln zusammen. Von dem eigentlichen Schicksal und Ende des Mannes war natürlich nicht die Rede. Es gab diesmal Blumenschmuck und arisches Gefolge, dazu ein paar Juden, die immer dort herumwimmeln oder einen Sonntagsspaziergang gemacht hatten. Im ganzen an dreißig Leute, die den kleinen Aushilfsraum füllten. – Die Juden gleichmütig und abgestumpft. Auch schon ganz knechtschaft-gewohnt. Der Tod des Mannes schien ihnen fast schon eine gerechte Sache: Er hätte wissen müssen, daß Privilegierte, deren Kinder im Ausland, neuerdings den Stern tragen müssen. Er war also schuldig! Ähnliche Urteile höre ich jetzt so oft. –
25. April, Ostersonntag vormittag
    Die Firma Willy Schlüter stellt nach ihrem Hausschild Heilbäder und Kräutertees her. In einem Gartenhaus ein Mittelding zwischen Wohn-, Bureau- und Fabrikräumen. Im Erdgeschoß in der Hauptsache zwei Wand an Wand liegende lange Säle mit Steinfußboden. Im einen quer zu den Fenstern Tische, an der Innenseite des Raums von Außen- zu Innentür ein breiter Längsweg, an der Innenlängswand und in dem anstoßenden kleineren Hinterzimmer Kartons mit Ware. Im Längsgang auf leeren Kisten offene volle Teekästen, deren Inhalt man stehend mit einer Blechschaufel in Hundert-Gramm-Tüten füllt. Auf den Tischen Waagen: Hier werden die Tüten auf das genaue Gewicht gebracht. Einen Platz weiter werden sie zugefaltet. An anderen Plätzen in Sechs-Kilo-Kartons gepackt. In dieser ersten Woche wurden im gleichen Saal auch Banderolen um die Päckchen geklebt. Aber das waren nur zeitweilige »Kriegsnotpackungen«. Man hatte nämlich Türmerkaffee-Tüten aufgekauft, die nun eine »Schlüters Haustee«-Banderole erhielten. Inzwischen sind aber – ich habe selbst ausladen helfen – wieder 200 000 firmeneigene Zellophanbeutel eingetroffen. Ich selber habe die meiste Zeit stehend Tüten gefüllt, ein bißchen auch geklebt, ein bißchen abgewogen. Zwischendurch beteilige ich mich an einer Kette zum Herein- und Herausbefördern von Kartons. (Das Banderolieren, das Zukleben ganz fertiger Sechs-Kilo-Kartons ist Sache einer Frauenabteilung im Oberstock, die ich nicht kenne.) Die Anstrengung, das tödlich Ermüdende der Arbeit besteht für mich natürlich in ihrer gräßlichen Monotonie und Geistlosigkeit, ein zehnjähriges Kind würde sie rascher, und besser leisten. Übrigens vergeht die Zeit rascher, als ich befürchtet hatte – es bleibt nur immer dumpf in mir die Trauer um die unwiederbringlich verlorene Zeit; etwas durchzudenken bin ich nicht imstande, ich verfalle in Dämmerzustand. Die Arbeitskameraden empfinden das nicht halb so schlimm. »Soll ich zu Hause sitzen und Fliegen fangen?« sagt mir ein rüstiger Siebziger, ein quidam Witkowsky, già Kaufmann. Er hat seine Ausfüllung, hat nie viel geistiger gearbeitet,verdient ein bißchen Geld. Stundenlohn 60 Pf. Wer »privilegiert« ist und infolgedessen von »Sozialabgabe« und erster Steuerklasse frei, bekommt wohl an 50 davon ausgezahlt; bei mir werden das 35 bis 40 Pf sein. Um vier sind fünf Minuten Pause; man bekommt einen Becher dünnen Ersatzkaffee. Den Kaffee lieferte die Belegschaft selber, gekocht wird er dort. Von halb sechs bis sechs ist große Eßpause. Ich habe eine Aluminiumbüchse mit kalten Kartoffeln, ein Glas mit Sauerkraut mit. Kaffee wird wieder geliefert, man kann sich sein Essen auch wärmen lassen. Übrigens ist Kantinenverpflegung – Anschluß an eine NSV-Verpflegstelle – »auch« für Juden vorgesehen, aber bisher eben bloß beantragt und »vorgesehen«. Um acht noch einmal eine Fünf-Minuten-Pause, diesmal mit Pfefferminztee, den die Firma liefert. Um halb zehn beginnt man mit Reinmachen, sehr pünktlich um zehn wird gegangen.

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