Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
die Notwendigkeit des » totalen Krieges « vergehe, den koste es den Kopf, erklärte Goebbels. (Schließung von Luxusgeschäften undBars, Verbot, im Tiergarten zu reiten, allgemeiner Arbeitsdienst, Höherbelastung der Beamten, kein Anspruch auf Urlaub.)
27. Februar, Sonnabend nachmittag
Vorgestern zog Frau Eger, die verwitwete, hier aus und zu ihren Eltern. An Juden wohnen in dem großen Haus nun nur noch im oberen Stockwerk wir und unten Eisenmanns. Wir haben mitangesehen, wie das Haus allmählich seine Menschen, seine Bilder, seine Möbel ausspie. Wie lange wird man uns hier noch in Ruhe lassen? Denn hier ist wirklich eine gewisse Ruhe. Am 3. 3. werden wir sechs Monate hier sein. In all dieser Zeit keine Haussuchung, nicht einmal eine Polizeikontrolle. Nur eben täglich die Angst davor.
4. März, Donnerstag abend
Bedürfnis, Leute zu sprechen über die verzweifelte Situation. Gestern auf dem Friedhof. Die drei: Magnus, Steinitz, Schein bei ihrem üblich-tragikomischen Skat hinter den Gräbern in der Gärtnerbaracke. Sehr bedrückt; sie nehmen bevorstehende Trennung der Mischehen an. D. h. Alternative: Die Frau läßt sich scheiden oder wird zur Jüdin erklärt und gleichfalls evakuiert. Alle drei stehen auf dem Standpunkt, den auch wir einnehmen: Die Frauen bleiben hier und retten, was zu retten ist. (Neues Argument hierfür: Getrennt würde man draußen doch.) – Daß die vorgestern nacht Evakuierten heute noch am Leben seien, wurde bezweifelt; wahrscheinlicher, daß sie in ihren Viehwagen – zwei Notdurfteimer in jedem Waggon – vergast worden seien.
10. März, Mittwoch vormittag
Bei allem Variieren zermürbende Stagnation und Dasselbigkeit. Immerfort Kämpfe im Osten, Rückzüge an der einen, glückliche Gegenoffensiven an der andern Stelle, immerfort Ruhe im Westen, immerfort Gerede von innerer Zuspitzung, immerfort Ruhe und Terror – Ruhe der Bevölkerung, Terror der Regierung. Immerfort extrem optimistische und extrem pessimistischeStimmungen der Juden. Ich bin häufig mit den paar Menschen zusammen, mit denen wir noch Umgang haben – am Sonntag nachmittag unser Lewinsky und Steinitz bei uns, abends setzte sich Eisenmann senior zu uns in die Küche –, ich raffe mich alle achtundvierzig Stunden etwa auf, zum Friedhof oder in Steinitz’ Wohnung oder zur Gemeinde zu gehen und auf diesem Wege einen Kohleinkauf – meist vergeblich – zu versuchen.
29. März, Montag mittag
Ich bin fortgesetzt sehr abgespannt – Herzbeschwerden, ständige Müdigkeit – und sehr deprimiert. Die Depression teile ich mit der ganzen Judenheit. Auch mit Richter, von dem ich mir am Sonnabend Geld und Brotmarken holte. Er sagte zur Situation dies: Er sähe die Lage trüber an als das letzte Mal. Wenn Deutschland heute bedingungslos kapitulierte, würde es an neunzig Prozent seines Bestandes retten. Statt dessen blute es sich weiter aus, und jeder Tag bedeute schlechtere Friedensbedingungen. Denn die Niederlage sei absolut gewiß. Ebenso gewiß aber, daß erst noch eine Sommeroffensive im Osten komme, wahrscheinlich mit Siegen, die dann die Stimmung heben und über den nächsten Winter fortkommen lasse. Ihn, Richter, entsetze die stumpfe Geduld und Dummheit des Volkes. Es habe die ungemeinen Brutalitäten der »totalen Mobilisation« ohne jedes Murren hingenommen, es nehme die ungeheuren Frontverluste, die ständige Arbeit der »Guljotine« – Richter ist sonst ein nicht ungebildeter Mann, aber Französisch treibt niemand mehr –, es nehme alles hin und lasse sich abschlachten. Unzufriedene gebe es in Massen, auch örtliche Organisation – aber ob eine »Dachorganisation« vorhanden sei, das wisse er eben nicht.
Worauf man neidisch sein kann! Frau Eisenmann, die hart Abgearbeitete, sagte zu mir: »Frau Eger hat es gut. Es ist ihr ein mehrwöchiger Aufenthalt im Sanatorium bewilligt worden.« Man hat Frau Eger den Mann getötet, sie selbst drei Wochen gefangen gehalten, und nun »hat sie es gut«.
18. April, Sonntag vormittag
Gestern mit der Morgenpost der Befehl zum Arbeitsdienst vom Montag, 19. 4., an. Ich mußte zur Gemeinde und erfuhr dort: Firma Willy Schlüter, Wormser Straße 30c. Dienstzeit von vierzehn bis zweiundzwanzig Uhr täglich, es handle sich um ganz leichte Arbeit, Teeabwiegen und -verpacken. Mir ist es nicht um leicht und schwer, nur um den unwiederbringlichen Zeitverlust und den tödlichen Stumpfsinn dieser acht Stunden. Als ich zum Schneeschippen kommandiert wurde, blieb mir die Hoffnung, im
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