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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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unterschied. Es war nicht zu erwarten, daß Wendover aufwachen und ihnen eine Antwort geben würde.
    »Nun …«, sagte er.
    Arm enthob ihn seines Problems.
    Der Zwerg hatte das Gestell fallengelassen und sich mühsam erhoben. Er starrte jetzt angestrengt auf die gegenüberliegende Seite der Lichtung. Er stand mit dem Rücken zu ihnen, und die undeutlichen Linien seines Körpers waren angespannt.
    Harper ließ das Buch fallen und untersuchte die Baumfront, die Augen verwirrt durch das unbestimmte Licht. Die schwarze Wand wurde hart und unerbittlich. Er stand auf und zog seinen Revolver.
    Er stieg über die ausgestreckte Gestalt des Arztes, der in der fremdartigen Sprache des Schlafes vernünftige Worte sprach, am Feuer vorüber. Arm hatte noch immer den Blick vor sich gerichtet.
    »Harper?« Er schien beunruhigt. »Es hat sich etwas bewegt.«
    Harpers Augen gewöhnten sich langsam an das Dunkel. Das flackernde Licht hinter ihnen zeichnete formlose Muster auf die Wand aus Pflanzen.
    Die Stille dehnte sich aus, bis der Laut eines zurückschnappenden Zweiges innerhalb des Dickichts sie erlöste. Das Geräusch wurde durch die Nacht und die Ungewißheit auf ein unglaubliches Volumen verstärkt. Harper riß den Abzug der Pistole zurück, seine Hände fühlten sich klamm an. Sein zweifaches Klicken hallte von der Baumwand wider. Etwas drängte ihn, zu rufen: »Komm heraus, oder ich schieße …«
    Die Einfältigkeit der Aufforderung war ihm schmerzlich bewußt, aber immerhin kam etwas heraus.
    Es glitt aus dem Blattwerk am Rande hervor, mit fließenden, knappen Bewegungen und stand dann sehr ruhig im Feuerschein, der undeutlich über seine Glieder flackerte und sie in gebranntes Umbra tauchte.
    Es war groß und feingliedrig gebaut, eine schlanke, sehnige Gestalt in der Finsternis. Seine vollkommene Reglosigkeit war entnervend, da sie ihm den Anschein einer lebensgroßen Skulptur verlieh, die, ihrer gewohnten, künstlichen Umgebung beraubt, durch ihre Gleichstellung mit den Bäumen und der Erde eine völlig neue und unerklärbare Bedeutung gewann.
    Harper schauderte, als er die matte, schuppige Körperhülle erkannte: Diese Haut war, im Unterschied zu der des Kindes, straff und ließ die Umrisse der Muskeln und Sehnen darunter erkennen. Der Körper war unbekleidet und haarlos, der Kopf ein langes, unverhältnismäßig schmales Oval, das nach oben spitz zulief. Seine Augen reflektierten das Licht wie die Augen von Tieren. In einer seiner hageren Hände trug er einen kurzen Speer, dessen Spitze aus einem breiten, spatenförmigen Span aus flachem Zinn bestand.
    Die Spannung wuchs: Harper spürte sie als Stauung der Luft, als Blutansammlung im Nacken. Oder vielleicht war das etwas anderes. Er hielt die Pistole im Anschlag, aber der Mutant bewegte sich nicht.
    Sie standen sich lange, ausdruckslose Minuten gegenüber, während derer Harper seine Gedanken nach Worten durchkämmte. Er bemerkte, daß die Genitalien des Wesens in eine Art Beutel gehüllt waren und fragte sich, ob das ein Bestandteil seiner Körperhülle war. Er hustete. Er sagte:
    »Wir bringen ein Kind … Wie du, ein Kind …«
    Die Worte fielen, eines nach dem anderen, wie Steine in ein Loch. Sie fielen langsam und trugen nichts dazu bei, das Schweigen zu mildern, das hinter ihnen zuschnappte wie eine Falle. Ein wachsendes Gefühl der Unzulänglichkeit bemächtigte sich Harpers. Der Mutant verharrte unbeweglich, sah sie lediglich aus reglosen Augen an. Hatte er verstanden? Er wartete auf eine Bewegung, die seine Reaktion verriet, ein Muskelzucken, eine Veränderung der Fußstellung. Es gab keine.
    »Ein Kind«, wiederholte er und fühlte sich einfältig und verzeihungsheischend, als sei er schuld, daß das Wesen sich weigerte, zu reagieren.
    Es verharrte noch etwa fünf Sekunden.
    Er hatte den flüchtigen, vielleicht seiner Phantasie entsprungenen Eindruck einer Bewegung: ein kurzes Nicken, ein kompliziertes Verschränken der Finger, das ebensogut eine Widerspiegelung des Feuerscheins hätte sein können.
    Es wandte sich unvermittelt ab und verschwand im Dickicht. Das ganze stumme Spiel konnte eine Halluzination gewesen sein. Ein leises Rascheln von sich bewegenden Büschen war zu hören.
    Harper atmete vernehmlich aus, er fühlte sich auf einem unfreundlichen Plateau der Enttäuschung alleingelassen. Dieser einseitige Versuch einer Verständigung hatte ihn in die unglaubwürdige Rolle des erfolglosen Unterhändlers gedrängt. Die Haltung des Mutanten hatte ihn

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