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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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gezwungen, eine Stellung zu verteidigen, die er nicht innehatte. Es war kein angenehmes Gefühl, nachdem er sich, aus keinem anderen Beweggrund als der Nächstenliebe, so weit hatte treiben lassen.
    Arm spürte offensichtlich nichts von der Niederlage.
    »Wir haben es geschafft!« sagte er vergnügt und versetzte Harper einen Hieb auf den Bizeps.
    »Ja. Aber es ist möglich, daß wir unbefugt Grenzen überschreiten. Ich frage mich, ob das Kind ausreicht.«
    »Beruhige dich«, meinte Arm. »Immerhin sind wir am richtigen Ort.«
    Er steckte die Pistole weg und blickte gedankenverloren ins Feuer, warf ein weiteres Stück Holz hinein und sah zu, wie die Funken aufwirbelten. In dem Dickicht konnte alles mögliche sein.
    Morag stand auf und trat zu ihm, das Buch hing wie ein toter Vogel in ihrer Hand.
    »War es einer von ihnen?« Und als er mit einem kurzen, in sich gekehrten Nicken antwortete: »Sie leben in den Wäldern, weißt du, und sie haben keine Kleider an.« Sie dachte über ihre Worte nach und stocherte mit der Schuhspitze am Rande des Feuers. »Sie haben ziemlich unangenehme Angewohnheiten.«
    »Halt das Buch nicht so«, sagte er. »Du wirst ihm den Rücken brechen.«

 
IX
DIE LANDKARTEN, DIE ER EINST GEKANNT HATTE
     
    Wendover erreichte die verblichene Morgendämmerung nach einer unruhigen Nacht. Geister zogen durch seinen Kopf:
    Er entfernte die restlichen Glasscherben, indem er mit dem Stein am Rahmen entlang fuhr, und kletterte dann unbeholfen hinein. Die Smith & Wesson schlug schwer gegen seinen Hüftknochen. Er war stolz auf sich.
    Drinnen war es schattig und feucht, ein kleines Verlies von einem Raum, schmutzigblaue Tapete schlug schlaffe Blasen, wo die Feuchtigkeit eingedrungen war. Bänke rundum und ein Stapel von rattenzerkautem Moder auf einem dreibeinigen Tisch wiesen ihn als Wartezimmer aus.
    Er versuchte, die Tür zu öffnen, und trat ohne Schwierigkeiten in den Flur hinaus. Die Tür des Behandlungszimmers war durch ein Schild gekennzeichnet, die restlichen Türen waren durch niedrige Holzgitter und Schilder blockiert, die – in gewohnter Ungehobeltheit – besagten, daß PATIENTEN KEINEN ZUTRITT hatten.
    Ein chromgefaßter Tisch, Regale und Stühle. Der Geruch von Rattenkot, Dunkelheit in den Ecken und ein Fleck von der Form eines Foetus über der Waage. Es war dumpf und staubig und war seit mindestens einer Generation nicht mehr betreten worden.
    Er hatte eine halbe Stunde herumgestöbert – dabei hatte er einen wohlausgerüsteten Arztkoffer gefunden, der oberflächlich gesehen in gutem Zustand war, zwei Desinfektionssprühdosen, die noch unter Druck standen und funktionierten und den fast unglaublichen Luxus einer Flasche Whisky –, als er die Turbine wieder hörte. Sie kam die Straße herunter.
    Sie wurde ausgemacht. Eine Tür schlug zu. Jemand rüttelte an der Außentür der Praxis.
    »Versuch es durch das Fenster, Arm!« rief er, in fast angenehmer Erinnerung an die Vergangenheit über eine Patientenkartei gebeugt. Der letzte Besitzer war augenscheinlich ein Homöopath gewesen.
    Schweigen folgte. Er hörte ein leises Geräusch hinter sich, drehte sich freudestrahlend um, seinen Hauptfund zu berichten, erblickte eine schattenhafte und unbeschreibliche Gestalt im Dämmerlicht. Dann folgte ein blendender Flammenblitz und ein überwältigender Schmerz in der linken Schläfe. Es hallte hämmernd in seinem Kopf. Er rang um Vernunft und gelangte zu einem dumpfen Gefühl der Überraschung; und es war mit Sicherheit ungerecht, daß er auch noch mit den Schatten kämpfen mußte. Sie zuckten, schnellten aus den Zimmerecken heraus und verschlangen ihn …
     
    *
     
    Er kämpfte sich aus dieser kalten Wiederholung zu dem Schreien des Kindes durch. Er spürte Schmerzen im Rücken, aber sein Kopf war zum ersten Mal seit Wochen klar und frei von Schmerzen. Er stand auf und rückte dichter an das fahle Feuer, an dem Morag kochte. Ihr Haar war dunkel und strähnig von Feuchtigkeit, ihre durchfrorenen Finger hantierten ungeschickt mit dem Geschirr. Es war neblig. Von den Bäumen tropfte es in regelmäßigen Abständen, ihre Zweige waren in graues Licht getaucht. Er verweilte eine Zeitlang schweigend, hauchte in seine Hände und rief sich die Ereignisse des frühen Morgens ins Gedächtnis. Es war ein Jammer, daß er den Mutanten verpaßt hatte, aber Harpers Bericht von seinem Auftauchen hatte seine Genesung beschleunigt: Er kam zu dem Schluß, daß er es sich nicht länger leisten konnte, krank zu

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