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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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Dickichte finden kannst. Nicht zu weit drinnen, aber außer Sichtweite der Straße.«
    Arm schlurfte davon, eine wunderliche, schlingernde Gestalt im schroffen Wind. Nichts an seiner Haltung ließ auf seine frühere Schärfe oder einen Hang zur Gewalt schließen: Nachdem die Gefahr überwunden war, schien er sich in ein Larvenstadium verwandelt zu haben.
    Harper betrachtete den Arzt. Er schlief mit weit geöffnetem Mund. Zu Beginn der Reise war er nach der Schätzung des Krüppels ungefähr achtundfünfzig Jahre alt gewesen. Zwei Wochen auf der Straße hatten das Werk vollendet, der einsame Abschnitt seines Lebens hatte begonnen, er war ein alter, alter Mann. Er erwachte, seine rotgeäderten Lider flatterten unsicher über den fahlen Augen.
    »Wir haben angehalten.«
    Er klang wie ein uraltes Kind, dem eine versprochene Freude vorenthalten wird. Harper spürte einen Hauch von Verärgerung in sich aufsteigen, aber er sagte nur: »Es ist spät. Wir können heute nicht weiter gehen.« Er sprach langsam und geduldig. Die enttäuschten Augen nährten seine unerklärliche Zuneigung zu dem alten Mann. Es ist, wie es ist, dachte er.
    »Sind wir näher gekommen?«
    Die unvermeidliche Frage. Harper sah Morag an, warf ihr den Ball zu und erhielt ein unverbindliches Schulterzucken zur Antwort.
    »Es müßte so sein«, sagte er.
    Wendover nickte und stützte sich auf einen Ellenbogen.
    »Ich glaube, ich werde versuchen, ein wenig zu laufen.«
    Harper half ihm aus dem Wagen, stützte ihn dann mit einer Hand unter der Achsel. Der ausgemergelte Körper wog nichts. Er zitterte vor Anstrengung. Harper spürte den harten Umriß der S&W.
    Sie stolperten den steilen, grünen Hang des Einschnittes hinauf und kletterten über die verrosteten Überreste des Zaunes. Morag folgte ihnen, der Karren quietschte hinter ihr. Harper dachte mit verzerrtem Gesicht daran, daß es von hinten schwierig sein mußte, den Stützenden vom Gestützten zu unterscheiden: Der Abhang kam seinem verkrüppelten Bein in keiner Weise entgegen.
     
    *
     
    Er brachte Morag das Lesen bei.
    Es war kaum mehr als eine Geste von seiner Seite, da sich herausstellte, daß ihre Fähigkeit der seinen fast gleichkam (es ärgerte ihn) und daß sie nur bei einigen schwierigen Konstruktionen seine Hilfe brauchte. Aber sie hatte seltsam beharrlich darauf bestanden, daß er seine Bemühungen fortsetzte. Er nahm an, daß es der einfache Versuch war, ihre Beziehung zu festigen. Er fühlte sich geschmeichelt.
    Sie lagen Seite an Seite im zuckenden roten Feuerschein und lasen zusammen in einem dünnen Buch, er hatte seinen Arm unter ihrem Kopf eingewinkelt. In der Eile ihrer Flucht hatten sie keines der Bücher aus der Bibliothek mitgenommen: Dieses hatte Morag im Wohnzimmer eines Hauses in einem verfallenen Gartenvorort entdeckt (sie rannte freudestrahlend zu ihm, als wäre es Dosennahrung, ihr verhärmtes Gesicht leuchtete, die Augen waren groß); es trug den verwirrenden Titel Erinnerungen eines bunten Einhorns, veröffentlicht in der Vertigone Little Press.
    Wendover und das Kind schliefen, der Arzt zuckte und flüsterte in seinen hitzigen Träumen. Arm war eine schattenhafte Gestalt hinter den zuckenden Flammen. Er summte vor sich hin und rückte etwas an Morags Tragegestell zurecht. Eigentlich hatte er Wache. Harper, der die Mitternachtsschicht übernehmen sollte, hätte schlafen müssen. Er würde es später in den schläfrigen Stunden bedauern; aber es schien ihm lohnenswert, der Wärme des Augenblicks zukünftige Bequemlichkeit zu opfern. Die Bäume im Umkreis der Lichtung ragten dick und beruhigend auf, ein dunkler, unergründlicher und trügerisch solider Schutzwall. Irgendwo lief Wasser lautlos hinunter auf die Autobahn, wo es in den verstopften Kanälen des Einschnitts versickerte.
    Den größten Teil des Textes begriffen sie beide nicht.
    Morag nahm an, daß es für Harper eine Bedeutung hatte, aber er verlor öfter, als er zugeben wollte, den Boden unter den Füßen, traute er doch nicht einmal seinen Eingeweiden. Die Bemühung darum war nervenaufreibend aufgrund seines großen Maßes an halb erhaschten Bedeutungen. Sie las:
     
    Thali domidfassaden, bogenförmig
    die unvereinten Vertikalen; der Fenstersturz,
    das Gewölbe überschattet; geduckt
    aufrührerisches Sonnenlicht; dieses hohe Gesicht
    die sichtbar werdende Stadt.
     
    Es war keine Stadt, die sie kannte, und er war sich nicht im klaren darüber, auf welche Weise sich eine Thalidomidfassade von einer normalen

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