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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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sein.
    Morag hob das Kind auf und begann, es sauberzumachen. Es wuchs schnell und füllte jetzt seine Haut aus. Wendover gab die Erforschung der Lichtung auf und beobachtete das Mädchen. Die Art, wie die scharfen Linien aus ihrem Gesicht wichen, wenn sie mit dem häßlichen Ding flüsterte, fiel ihm auf. Er konnte sich keinen Reim auf sie machen. Er war es nicht mehr gewöhnt, Menschen zu durchschauen. Nach der Katastrophe war es unmöglich, Voraussagen zu machen, und man war genötigt, nach Taten zu urteilen. Dennoch fühlte er eine feine Trennungslinie zwischen der unbedarften und der liebenswürdigen Einfalt: Und als er darüber nachdachte, kam ihm die Ahnung einer Gefahr. Er beschloß, den Versuch zu unternehmen, die Brücke im voraus zu überschreiten.
    »Wir werden es bald verlieren«, sagte er. »Du wirst es vermissen.«
    Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Nicht so sehr«, erwiderte sie. »Ich habe etwas anderes dafür bekommen, nicht wahr?« Das verstand er gut. Ihre Augen suchten den Kreis von Bäumen. Sie schüttelte den Kopf. »Es scheint Ihnen heute besserzugehen, Doktor.«
    Immerhin hat sie irgendwo gelernt, den Fragen auszuweichen, die sie nicht beantworten will, dachte er. Er hoffte, daß sie keine Schuldgefühle hatte wegen der Übertragung ihrer Zuneigung auf Harper. Selbst wenn sie vollkommen war, würde sie das Kind ohne jedes Bedauern aufgeben? Der Gedanke behagte ihm nicht, aber ihm war klar, daß er altmodisch war. Zumindest hatte sie mit dem Zeitgeist Schritt gehalten.
    »Dafür haben wir keine Zeit«, sagte er. »Wenn die Sache erledigt ist, werden wir viel Zeit haben. Vielleicht bekomme ich dann einen Rückfall …«
    Ohne es zu wollen, hatte sie an seine eigene empfindliche Stelle gerührt. Auge um Auge, dachte er. Was werde ich tun, wenn es vorüber ist? Wieder zusehen, wie die Welt in Stücke bricht? Aber dazu habe ich nicht mehr die Geduld. Also schloß er lahm: »Aber nur, wenn du mir versprichst, mich zu pflegen.«
    Du blöder, alter Mann, dachte er. Sie warf ihm ein dünnes Lächeln zu und flüsterte dem sabbernden Kind Geheimnisse ins Ohr.
    Unter gewaltigem Getöse drängten sich Arm und Harper aus dem finsteren, feuchten Dickicht, jeder von ihnen trug eine Handvoll leerer Fallen. (Sie hatten sich zu einem frühen Zeitpunkt ihrer Reise auf diese Art der Jagd geeinigt, und es hatte ihn mit schadenfroher Befriedigung erfüllt, daß keiner von ihnen an seine Fertigkeit auf diesem Gebiet heranreichte: Er dachte, daß er es in Zinnhaus schließlich doch zu Wohlstand hätte bringen können …) Harper zupfte sich Zweige und Kletten aus dem Haar. Der Zwerg zog einen Hasen unter der Jacke hervor und reichte ihn Morag mit der Miene eines Zauberkünstlers, der Beifall erwartet.
    »Es war noch einer drin«, sagte er, »aber ein Fuchs oder so« – er warf Harper einen Seitenblick zu – »hat sich in der Nacht darüber hergemacht. Dann feuert dieser Halunke seine letzte Kugel ab, um ihn von seinem Leiden zu erlösen, und …« Er feixte und krümmte sich und schüttelte sich vor Lachen. Er war guter Laune. »Pah!« setzte er nachdrücklich hinzu.
    Harper lächelte müde.
    »Es hat es in Stücke gefetzt«, sagte er. »Ich dachte nicht, daß es ihm den Hals brechen würde.«
    »Du denkst nie«, erklärte Wendover.
    »Ich bin froh, wenn ich hier herauskomme«, sagte Harper, ohne jemanden direkt anzusprechen, in dem Versuch, das Thema zu wechseln. »Was können wir tun? Nur herumsitzen und warten, daß sie zu uns kommen?« Er grinste Wendover an, einen außerordentlich erleichterten Ausdruck auf dem Gesicht. »Es ist natürlich Ihre Entscheidung.«
    »Ich glaube, wir werden ein Stück weiterziehen«, sagte Wendover. Er hatte das Gefühl, daß er etwas verpaßt hatte.
     
    *
     
    »Die ganze Grenzüberschreitungsgeschichte ist überholt. Es gibt nicht so viele Menschen.«
    Wieder auf der Straße.
    Als sie weiter vordrangen, wich der Wald langsam von der Autobahn zurück und machte niedrigem Gestrüpp und Buschwerk Platz, aus dem vereinzelte Dornenschößlinge aufragten. Ginster und Heckenrosen waren zu beträchtlicher Höhe aufgeschossen und hingen, geschwächt durch diese Anstrengung, kraftlos herunter, graugefleckt von mutierten Schädlingen. Nach anderthalb Kilometern blieb der Wald im Mittelgrund, wie ein Trugbild des Auges.
    »Die Dichte hat nichts zu bedeuten. Und überhaupt sind diese Leute …« Harper fand nicht das richtige Wort, stolperte über einen mit Unkraut

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