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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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viel.
    Harper war müde. Sie hatten eine Woche in den Trümmern der Stadt verbracht, hatten sich, verfolgt von den noch immer weißen Säulen der Wolkenkratzer am Horizont, vor den Wilden versteckt. Es hatte sich herausgestellt, daß Wendovers Genesung von kurzer Dauer war: Auf einer abbröckelnden Veranda hatten sie entmutigt seinem Fieberwahn gelauscht, hatten versucht, diesen und das Schreien des Kindes zu unterdrücken, wann immer der Laut entfernter Stimmen vom Wind zu ihnen getragen wurde. Es hatte ununterbrochen geregnet.
    Vor vier Tagen, als der alte Mann kein Zeichen von Besserung und kein Verlangen, sich selbst zu heilen, gezeigt hatte, waren sie heimlich aufgebrochen und hatten sich am frühen Morgen durch die Straßen geschlichen. Seither hatte Harper den größten Teil seiner Aufmerksamkeit ihrer Umgebung gewidmet und hoffte, daß sie eine Wiederholung des Fiaskos am Treibstofflager vermeiden konnten. Morag konnte keine genauen Angaben über ihren Standpunkt machen. Als sie gefragt wurde, deutete sie unbestimmt in den Süden. Zumindest waren sie dem Irrenhaus entronnen; in einer Umgebung, die ihm vertraut war, fühlte er sich selbstsicherer.
    Krank wie er war, blieb Wendover doch die treibende Kraft der Gruppe. Harpers zaghafte Überlegenheit betrachtete er als vorübergehende Sache. Selbst in den Tiefen seines Fiebers hatte er ihr Ziel nicht aus den Augen verloren. Als sie die Stadt erst hinter sich gelassen hatten, wurde auch er kräftiger, als hätte der Ort irgendeinen greifbaren Einfluß auf sie alle ausgeübt. Die Kopfwunde hatte zu heilen begonnen, die Entzündung ging zurück, und seine schrille Stimme besaß wieder das entscheidende Gewicht in den fortgesetzten Streitereien über Richtung und Geschwindigkeit. Unterwegs wurde er mit schlaffen Gliedern und ausdruckslosem Gesicht auf dem Karren hin und her geworfen, aber sobald der Krüppel zum Anhalten aufforderte, kehrte etwas von seiner alten, mürrischen Energie zurück. Er trieb sie an, als liefe er mit einer eigenen inneren Uhr um die Wette. Harper, der unbewußt seinem Verständnis des Arztes etwas Mystisches hinzufügte, ertappte sich dabei, daß er sich fragte, ob Wendover seinen Tod voraussah.
    Hinter ihm verstummte plötzlich das Quietschen der Räder. Es war fast Abend: Er hatte bereits eine kleine, aber sichtbare Veränderung des Lichts um das Gestrüpp bemerkt, fast als würden Schatten aus ihnen hervorkriechen. Bäume, die ihr eigenes Leichentuch woben, dachte er.
    Er suchte das vor ihm liegende Gebiet sorgfältig mit den Augen ab, auf der Suche nach Schatten, die nicht Teil der Vegetation waren. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, dazu angetan, seine Dummheit in der Bibliothek wiedergutzumachen. Zufrieden drehte er sich um und betrachtete die beiden reglosen Gestalten an dem Handwagen. Er humpelte zu ihnen zurück.
    Morag, die auf dem gesprungenen Asphalt hockte, hatte ihren Schuh ausgezogen und betrachtete prüfend ihre Ferse. Arm stand ein paar Meter weiter und ließ den Kopf erschöpft hängen. Da, wo sein Haar weggesengt war, war die Wölbung seines Schädels zornig rot. Seine Kleiderfetzen wehten im Wind. Die Explosion hatte ihn nicht so sehr aus der Ruhe gebracht wie der Verlust des Tuppen; auf seine Füße angewiesen, war er von keinem großen Nutzen. Tatsächlich schien er seit ihrer Flucht seine Kraft verloren zu haben, und begnügte sich meistens damit, seine Anweisungen von dem Krüppel entgegenzunehmen.
    Morags Ferse war wund und voller Blasen.
    »Ich kann nicht weiter gehen«, sagte sie, als Harper neben ihr stand und die weiche Rundung ihres Körpers bewunderte. »Nicht heute. Und es muß gefüttert werden.«
    Geistesabwesend, die Augen auf ihn gerichtet, zog sie den Schuh wieder an. Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher, wenn sie ihn ansah, etwas in den Augen, die Neigung des Kopfes. Er wünschte, das ganze wäre so einfach. Er fragte sich kurz, ob seine eigenen Züge eine ähnliche Veränderung aufwiesen, das Glätten von Falten, die der Wind eingeprägt hatte. Er bezweifelte es. Die Reise hatte ihrem Gesicht Spuren hinzugefügt, einen scharfen, verhärmten Ausdruck unter den Schwären. Sie war anziehender als die meisten. Er half ihr auf, und sie umarmten sich unbeholfen wegen des Kindes. Sein seltsames, häßliches Gesicht blickte ihn über die Schulter an. Er zog eine Grimasse, und es beachtete ihn nicht.
    »Dann halten wir an. Arm?« Er machte sich frei. »Sieh zu, ob du ein offenes Fleckchen Land in einem der

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