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Idealisten der Hölle

Idealisten der Hölle

Titel: Idealisten der Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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wollen …«
    Die Umgehungsstraße mündete bald in einer verkommenen und von brennesselüberwucherten Gräben gesäumten Landstraße. Vor langer Zeit war die Umgebung vorwiegend landwirtschaftlich genutzt worden, hübsche Hundert-Hektar-Flächen mit Tierfutter und Wurzelgemüse, aber der Zusammenbruch hatte dem ein Ende gesetzt.
    Die Ausläufer des Waldes verwischten die Ränder der tiefliegenden Felder; junge Nadelbäume drängten sich in die noch verbliebenen Flecken von Zuckerrüben und Winterkohl (Sorten, die der hohen Erträge willen gezüchtet worden waren und nicht geeignet, mit den weniger zivilisierten Unkräutern zu wetteifern: Aber die Überlebenden klammerten sich hartnäckig fest). Die Dornenhecken hatten sich ausgebreitet und aufgrund genetischer Veränderungen merkwürdige Formen entwickelt. Der Nebel hing dumpf im Unterholz, schluckte das Trällern eines Wesens, das Amseln unter seinen Vorfahren hatte, und dämpfte das mechanische Krächzen der zeitlosen Saatkrähen.
    Wendover wurde von unangenehmen Träumen verfolgt: Unter dem Einfluß der eisigen, verschlungenen Landschaft sah er diese Reise klar als einen Akt der Sühne, die letzte Ausdehnung einer Reihe von emotionalen Gedankengängen, die durch die Katastrophe überflüssig geworden waren.
    »Achte darauf, daß es das Kind warm genug hat«, erklärte er Morag. Er zitterte.
    Harper stieß mit einem Fuß an eine Furche auf der Straße. Er sah auf und sagte: »Jemand verkehrt hier regelmäßig. Ist das eine Kettenspur?«
    Wendover zuckte die Achseln. »Frag Arm.«
    Sie drängten sich dichter aneinander. Der Nebel legte sich um sie. Morag zog die Windeln des Kindes fester. Nach all dem war es unvermeidlich, daß sie Stimmen hörten.
     
    *
     
    Angesteckt von Harpers Argwohn, bildete sich Wendover ein, man sei ihnen auf der Straße gefolgt. Aber das Geräusch schien von vorne zu kommen; einzelne Schritte, die zu einem fast rhythmischen Schlurfen verschmolzen, und die Stimmen hatten einen gedämpften eintönigen Klang.
    »Ich glaube, es ist besser, wir legen uns in den Graben«, schlug Arm ruhig vor.
    Wendover zögerte, versuchte, eine Richtung festzulegen. Ein kleiner Hund begann, aufgeregt zu bellen. Über dem Boden erhob sich ein Wirbel von Füßen und Stimmen, ein Kind wiederholte in durchdringendem Diskant immer wieder eine unsinnige Litanei, eine Aneinanderreihung von unzusammenhängenden Silben, die sein Gedächtnis wiedergab als:
    »Was jeder Wiebel weiß, was jeder Wiebel weiß, was jeder Wiebel w …«
    »Ducken Sie sich, Doktor«, drängte Arm.
    Er faßte den Ärmel von Wendovers Jacke und zog ihn in die Brennesseln. Die anderen kauerten sich neben ihnen nieder. Das Bett des Grabens war naß und weich, übelriechend und verschwiegen unter Vogelmiere und Nachtschatten. Er verbrannte sich, gab aber keinen Laut von sich. Der unsinnige Vers kreiste weiter in seinem Kopf, brach dann abrupt ab.
    Eine unerfreuliche Versammlung löste sich aus dem Nebel.
    Sie wurde von zwei Männern auf alten, siechen Pferden angeführt. Die Hufe der Tiere waren mit Stoffstreifen umwickelt; sie stolperten und scharrten mit den Hufen und ließen die Köpfe teilnahmslos in dem armseligen Geschirr hängen. Die Reiter trugen enge, dunkle Reithosen und nachlässig geknöpfte Gamaschen, eine seltsame, überalterte Tracht. (Es dauerte eine Weile, bis Wendover klar wurde, daß das ganze Wesen der Uniformiertheit überaltert war. Es bereitete ihm eine widersinnige Freude, so als wäre dem Gebäude seines eigenen, persönlichen Unglücks ein Stein hinzugefügt worden: Um so mehr hatte er die neue Welt in der Hand.) Jeder von ihnen trug eine Holzstange. Ihre Gesichter waren hager und finster, krebsüberzogen, gleichförmig und einfältig, und sie ritten mit unbehaglich gekrümmten Rücken.
    Hinter ihnen reihten sich Gruppen von vier und fünf Leuten, augenscheinlich die vollzählige Einwohnerschaft eines Dorfes.
    Verhärmte Kinder in alten Mänteln und Regenjacken folgten den Pferden mit Lederkübeln in der Hoffnung auf Mist. Von Zeit zu Zeit sang das eine oder andere die ersten Silben der absurden Litanei, hielt dann inne und sah sich schuldbewußt um. Ihre Eltern liefen nach Geschlechtern getrennt: Die Frauen trugen Kleinkinder oder zerrten sie hinter sich her; die Männer bewegten sich mit leicht militärischer Haltung, die Stangen geschultert. Manche von ihnen führten kleine kläffende Hunde an mehreren Leinen mit sich.
    Sie strahlten die gleiche greifbare Armut und

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