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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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verehrten ihn wie einen Halbgott. Es hieß, er sei persönlich an einem riesigen, landesweiten Blackout beteiligt gewesen, habe es fertiggebracht, Stromnetze im ganzen Nordosten und Mittleren Westen lahmzulegen; es hieß, er habe mehrere größere Banken um Millionen von Dollars bestohlen und dafür gesorgt, dass ein Professor der Yale University wegen Verbreitung von Kinderpornographie unter Anklage gestellt wurde.
    «Wenn ich du wär, würd ich dem Typen nicht ans Bein pissen», sagte Dylan – einer von Jays Mitbewohnern, ein fetter bärtiger Einundzwanzigjähriger aus Colorado mit einem Gesicht wie eine Yamswurzel. «Der Kerl ist der Zerstörer , Mann», sagte Dylan ernsthaft. «Der zerstört dein Leben aus purem Jux, ey.»
    «Hmm», sagte Jay. Es war komisch, das gerade aus Dylans Mund zu hören, dachte er, denn Dylan und seine Kumpel brachten ein gut Teil ihrer Zeit damit zu, im Internet bösartige, hirnlose Streiche zu spielen – auf «The Wonderful Fluffy World», die Bichon-Frisé-Website irgendeiner Dame, Tierpornovideos hochzuladen und an für Kinder gedachte Message-Boards blutrünstige Unfallfotos zu posten; irgendein armes Mädchen zu terrorisieren, das eine Tribut-Site für einen toten Popstar betrieb, den sie alle verabscheuten, indem sie Hunderte von Pizzas an ihre Adresse liefern ließen und dafür sorgten, dass ihr der Strom abgestellt wurde; sich in die Website der National Epilepsy Foundation zu hacken und eine stroboskopartige Animation hochzuladen, die, wie sie annahmen, bei den Kranken epileptische Anfälle auslösen konnte. Dann wälzten sie sich, hemmungslos kichernd, in nachgemachten Krämpfen auf dem Boden, während Jay ihnen unbehaglich missbilligend zusah. Es konnte auf die Dauer ermüdend wirken, schrieb er Breez.
    «‹Ermüdend›», antwortete Breez. «So kann man es höflich ausdrücken.»
    Es war ungefähr drei Uhr früh, und Jay und Breez hatten ein paar Stunden lang freundlich miteinander gechattet. Es war eine nette Abwechslung, dachte Jay, mit jemandem seines Alters zu reden, wenngleich auch einschüchternd. Breez redete immer in vollständigen Sätzen, gliederte seine Texte übersichtlich, statt einfach hintereinanderweg zu schreiben, und machte weder orthographische Fehler, noch verwendete er je Abkürzungen oder Jargon-Ausdrücke.
    «Ich finde all diese kleinen Trolle allmählich auch ermüdend», sagte Breez. «Der ständige Unfug und dieser Humor auf Hilfsschulniveau. Allmählich gelange ich zu der Überzeugung, dass wir ein Eugenik-Programm für das Internet bräuchten. Meinst du nicht auch?»
    Jay wusste nicht so genau, was das Wort «Eugenik» bedeutete, also wartete er erst mal kurz. Dann tippte er: «Klar. Absolut.»
    «Es ist schön, jemanden zu treffen, der ein bisschen gesunden Menschenverstand hat», sagte Breez. «Die meisten Leute können einfach nicht die Wahrheit akzeptieren. Du weißt schon, was ich meine. Bilden die sich ein, wir könnten einfach so weitermachen, mit diesem ganzen Gelaber und Geschiss, als ob wir nicht am Rand des Untergangs stünden? Die arktische Eiskappe schmilzt. In den Ozeanen gibt es tote Zonen, die sich mit astronomischer Geschwindigkeit ausdehnen. Die Bienen sterben, und die Frösche und Süßwasserreserven nehmen immer weiter ab. Die globale Ernährungswirtschaft steuert dem Zusammenbruch entgegen. Wir sind wie Fibonaccis Kaninchen, stimmt’s? Noch eine Generation – noch zehn, fünfzehn Jahre, und wir werden den Punkt erreicht haben, an dem das Ganze umkippt. Elementare Projektionsmatrizes. Korrekt?»
    «Korrekt», sagte Jay, und dann starrte er auf den kleinen blinzelnden Herzschlag des Cursors.
    «Ich werde dir ein Geheimnis verraten, Jay», sagte Breez. «Ich glaube an den Lebensstil des Untergangs. Bis zur offenen Anarchie ist es nicht mehr allzu weit. Sehr bald schon werden wir anfangen müssen, einige schwierige Entscheidungen zu treffen. Wir sind einfach zu viele, und ich fürchte, dass man sich binnen kurzem die Frage stellen muss: Wie schnell kann man von den sechs Milliarden Menschen, die es auf der Welt gibt, drei oder vier eliminieren? Wie beseitigt man sie auf die fairste und gerechteste denkbare Weise? Das ist die Frage, mit der die Menschheit anfangen sollte, sich zu beschäftigen.»
    Jay dachte nach. Der Lebensstil des Untergangs?
    «Es gibt zweifellos Anteile der breiten Masse, die eine Ausdünnung verdienen – das ist alles, was ich meine», sagte Breez. «Gibt es auf der Erde noch Platz für Leute wie deine

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